Kanonen statt Butter –  Clemens Fuest ist zu allem bereit


Im Sommer 2006 startete die Initiative „Partner für Innovation“ unter Führung eines ehemaligen Vorsitzenden der Bertelsmann-AG die Medienkampagne „Du bist Deutschland“. Ziel war, einen Beitrag zur Entwicklung „positiven Denkens“ und ein „neues deutsches Nationalgefühl“ zu verankern.

Die Kampagne ging schief, denn ihr Motto war nicht ganz taufrisch. Schon 1935 hatte es, wie sich herausstellte, Hitler-Porträts mit der Schlagzeile: „Denn du bist Deutschland“ gegeben. Als das öffentlich bekannt wurde, fanden sich zwar noch einige, die die Nationalgefühl-Kampagne dennoch verteidigten und darauf verwiesen, der Nazi-Spruch von 1935 und der Kampagnentitel von 2006 seien doch bloß „zufällig übereinstimmend“ (Hans Mommsen, Hans-Ulrich Wehler).

Aber die Kampagne überlebte diesen GAU nicht[1]. Die Erinnerung an ihr Scheitern und die sie skandalisierenden kritisch-satirischen Kommunikationsguerilla-Aktionen dürfte sie deutlich überlebt haben.[2]

Nun gibt es eine weitere zufällige Übereinstimmung:
vor wenigen Tagen, am 22. Februar 2024, äußerte sich der Chef des Ifo-Institus, Clemens Fuest, zur Notwendigkeit, die sozialstaatlichen Ausgaben zu senken, um endlich die Rüstung anzukurbeln. Er griff dafür auf eine bekannte Metapher von Kanonen und Butter zurück.

Locker, lässig und seiner Sache völlig sicher äußerte er im ZDF:

„Ja ich glaube, wenn man mal zurückschaut – es gibt ja Untersuchungen darüber, wie das in der Vergangenheit war, wenn man für das Militär mehr ausgeben musste – und das Ergebnis ist ganz klar: dann wurde eben weniger für andere Dinge ausgegeben.“

An seine Diskussionspartner/in in der Talkshow, die GRÜNEN-Kovorsitzende Lang und den FDP-Vorsitzende Lindner gewandt, fügte er hinzu:

„Ich verstehe, was Sie sagen, Frau Lang. Wir können uns jetzt nicht hinstellen und sagen, also Leute, wir kürzen jetzt den Sozialstaat zusammen.
Aber das wird so sein.
Also: Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge, aber das ist Schlaraffenland, das geht nicht.
Also: Kanonen ohne Butter. Das heißt, wir werden Einbußen haben. … Wir werden ihn weiter finanzieren, den Sozialstaat, aber er wird halt kleiner ausfallen.[3]

Joseph Goebbels formulierte 1936 – Clemens Fuest meint wahrscheinlich, in der „Vergangenheit, in dem man mehr Geld für die Rüstung ausgeben musste“:

Wir werden zur Not auch einmal ohne Butter fertig werden, niemals aber ohne Kanonen.“[4]

Rudolf Hess und Hermann Göring griffen diese Propagandawendung im selben Jahr auf, wobei der leibesfüllige „Reichsjägermeister“ Goering den Vogel abschoss, als er für einen „freiwilligen Fett-Verzicht der Bevölkerung von 25%“ plädierte.[5]

Clemens Fuest griff mithin wörtlich auf die zentrale NS-Propaganda-Metapher zu Bewältigung der sogenannten „Fettlücke“ Nazideutschlands zurück, die gemeinsam mit der „Eiweißlücke“ und der „Faserlücke“ den weniger begüterten Teilen der „deutschen Volksgemeinschaft“ das Leben während der gesamten Naziherrschaft erschwerte – von allen anderen ganz zu schweigen.

Damals wie heute lautete das Zauberwort, mit dem solche Probleme in den Propagandareden, aber nicht der Wirklichkeit beseitigt werden sollen, „Wir“.
Es wurde und wird die Behauptung aufgestellt: den Gürtel enger zu schnallen, für die Kanonen auf Butter verzichten zu müssen – das sei ein quasi naturgegebenes Phänomen mit alternativlosen Konsequenzen, mit dem alle, also „wir“, gleichermaßen zu kämpfen hätten.

In Wahrheit, aber das wollte weder Goebbels 1936 noch will es Fuest 2024 sagen, ist die Frage nach dem Verhältnis von Kanonen und Butter, die Frage nach dem Verhältnis von Investitionen in Rüstung oder in das Projekt einer mindestens an Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit orientierten Gestaltung der Gesellschaft eine politische, nämlich eine Verteilungsfrage. Und Verteilungsfragen sind wesentlich gesellschaftliche Machtfragen. Menschen haben sie entschieden und Menschen können diese Entscheidung auch umstürzen und durch bessere ersetzen.

Natürlich darf man Clemens Fuest nicht unterstellen, er habe Goebbels direkt zitieren wollen. Vermutlich kannte er den dargestellten historischen Kontext nicht, sonst hätte er diese Metapher vielleicht dann doch nicht gewählt.

Es ist also viel schlimmer: offensichtlich fällt dem Chef des renommierten ifo-Instituts im Jahr 2024 zu der angeblich unumgänglichen Idee, die Aufrüstung für einen bevorstehenden Krieg mit einer drastischen Senkung des Lebensstandards der Bevölkerung finanzieren zu wollen, exakt dasselbe inhaltliche Rezept ein, dasselbe demagogische und klassenüberwölbend-volksgemeinschaftliche „Wir“ und dieselbe Metapher von den Kanonen und der Butter, wie 1936 Joseph Goebbels. Er musste ihn nicht zitieren. Er wählte ganz von sich aus dieselben Worte wie der seinerzeitige Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda.

Dreieinhalb Jahre nach der Goebbelsrede über Kanonen und Butter begann Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg. Es reichten zum Glück weder die Butter noch die Kanonen, weder die eigenen deutschen noch die von der Nazi-Wehrmacht bei anderen zusammengestohlenen, um die deutsche Terrorherrschaft über weite Teile Europas aufrechtzuerhalten.

Wie sehr die in letzter Instanz damals wie heute tragende und treibende Kraft des deutschen Imperialismus und Faschismus, das deutsche Monopolkapital, 2024 in dieselbe Richtung denkt wie spätestens seit 1914 führt Clemens Fuest in freundlicher Beiläufigkeit und gerade darum so glaubwürdig vor. Ebenso zeigt der fehlende Aufschrei bei Moderatorin Maybrit Illner, bei Ricarda Lang und Christian Lindner, wie weit sie allesamt in dieser Frage mit Fuest gemeinsam zumindest die Möglichkeit dieser Metapher akzeptieren.

Ob die Mehrheit der Menschen im Land wirklich bereit ist, weiter als bisher bereits die ertragenen Steigerungen des Zeitenwende-Kriegs- und Sanktionsetats auf Kosten ihrer Lebensqualität und ihrer Zukunftsperspektiven hinzunehmen, wird sich zeigen.

Die „Kanonen-statt-Butter-Strategie“ führt mit absoluter Sicherheit zum Krieg, sie ist zumindest Teil seines propagandistischen Vorbereitungs- und Formierungsdiskurses. Das ist erprobt und erwiesen.  

Es wird Zeit, es mal umgekehrt zu versuchen, und zu dem Zweck am Besten die Produktion von Butter und allem anderen, was Menschen materiell und kulturell zum Leben brauchen, gesellschaftlich und demokratisch zu planen, bei der Gelegenheit die Rüstungskonzerne zu entmachten und das ifo-Institut wegen erwiesener Friedens-Unfähigkeit zu schließen.


PS: Blickt man zurück, dann erkennt man, dass sich Äußerungen wie die von Fuest in eine längere Vorgeschichte einordnen lassen. Sie führt von den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute zB. in die Gründungs-, Radikalisierungs- und Aufstiegsgeschichte der AfD. Beispiel hier.
Was damals noch eher rechtsaußen war, ist heute Mainstream und wird von einer Regierung aus SPD, GRÜNEN und FDP in die Tat umgesetzt.
Wer heute die AfD und die sie umgebenden Neuen Rechten, Neonazis, Aristokraten, WerteUnionisten und Millionäre bekämpfen will, sollte sich fragen, mit wem man zB. auf großen „Demos gegen Rechts“ auf die Straße geht. Und mit wem vielleicht besser nicht.


[1]https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/du-bist-deutschland-echo-aus-der-nazi-zeit-a-386544.html

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Du_bist_Deutschland

[3] https://www.zdf.de/politik/maybrit-illner/clemens-fuest-kanonen-und-butter-sind-schlaraffenland-maybrit-illner-22-februar-2024-100.html

[4] Rede J. Goebbels, Januar 1936 – zitiert nach Kurt Bauer: Nationalsozialismus: Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall, Wien 2008, S. 306

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Fettl%C3%BCcke

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Was tun gegen den Rechtsruck! Aber wie?



Es ist wunderbar, dass in den letzten vier Wochen nach dem Bekanntwerden des „Masterplan Remigration“ von Martin Sellner, der Neuen Rechten, AfD, WerteUnion, CDU, Millionären und Aristokraten inzwischen über drei Millionen Menschen gegen AfD und Faschismus auf die Straße gegangen sind. Trotzdem können Antifaschist:innen mit diesem Stand der Dinge nicht zufrieden sein.[1]
 
Auch wenn die marxistische und antifaschistische Linke derzeit so schwach ist, dass sie keine nennenswerte Alternative in die Stadtteile und Betriebe oder auf die Straße bekommt, ist es doch wenigstens erforderlich, während des Aufbaus der derzeitigen Bündnisse und auch in den Aktionen laut und deutlich Kritik und weiterreichende Vorstellungen einzubringen, die inhaltlich klar über ein „Alle gegen die AfD!“  hinausreichen.

Man kann nicht kritiklos mit Leuten gemeinsam gegen die AfD-Remigrationspläne auf die Straße gehen, die im Unterschied zur AfD davon nicht nur reden, sondern sie ankündigen und vor allem die Macht haben, sie auch praktisch durchzusetzen. Offenbar als Angebot an den rassistischen Teil der Bevölkerung gedachte Propagandasätze wie „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben!“ (Olaf Scholz, Oktober 2023) – bedeuten reale und tödliche Gefahr für alle, die künftig von der deutsch unterstützen europäischen Politik des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) betroffen sein werden. „Willkommenszentren“ in Afrika (bereits Otto Schily, SPD), „Abschiebungen Hunderttausender Migrant:innen nach Ruanda“ (Ministerpräsident Sunak, Großbritannien), „Musterstädte in Nordafrika“ (Sellner, AfD, CDU und WerteUnion im Potsdamer Geheimtreffen) – wo ist denn da der grundsätzliche Unterschied? Soll er etwa in der angeblichen „Rechtstaatlichkeit“ der Umsetzung solch menschenverachtender Vorhaben liegen? Das kündigt die AfD wie zum Hohn auch an, wenn sie für bis zu zwanzig Millionen Bewohner:innen der BRD die Abschiebung fordert (Björn Höcke in Gera, Dezember 2023: https://www.derwesten.de/politik/afd-hoecke-remigration-deportation-auslaender-raus-e-id300814756.html).

Man kann nicht kritiklos mit Leuten gegen Faschismus auf die Straße gehen, die Bandera-verherrlichende Nazis in der Ukraine bewaffnen und dafür wie zum Beispiel Scholz und Pistorius bei Rheinmetall in Unterlüß die nächste Munitionsfabrik für die NATO-Osterweiterung in der Ukraine in Auftrag geben und gleichzeitig über die dortige Zwangsarbeit tausender Jüdinnen und Juden aus Osteuropa bis 1945 schweigen – eine Zwangsarbeit, an die vor Ort in Unterlüss bis heute niemand erinnert werden will[2], und wo vor drei Jahren die ersten Ansätze einer Erinnerungsarbeit[3] daran innerhalb von Stunden gewaltsam zerstört wurden.

Man kann nicht kritiklos mit Leuten gemeinsam für „Rechtstaatlichkeit“ auf die Straße gehen, die den zionistischen Völkermord in Gaza für „rechtstaatlich“ erklären, ihn im Sinne einer ominösen  „deutschen Staatsräson“ politisch decken, ihn bewaffnen und finanzieren, die einerseits bei jeder Gelegenheit feierlich und, wie Außenministerin Baerbock, unter Tränen erklären „Nie wieder ist Jetzt“ – und zugleich und mit der ausdrücklichen Begründung dieses „Nie wieder!“ Kriegsverbrechen mitverantworten. „Nie wieder“ kann nur bedeuten „Nie wieder ist Jetzt, gegen niemanden und nirgends!“ – oder es bedeutet außer selbstentlastenden Worten nichts.

Man kann nicht kritiklos mit Leuten gemeinsam auf die Straße gehen, deren Politik der vergangenen Jahrzehnte zu einer gigantischen sozialen Ungleichheit geführt hat, die jetzt den Aufstieg der AfD und ihre Demagogie ermöglicht. Es ist diese empörende Ungleichheit, die es der AfD möglich macht, sich derzeit problemlos als „Anwalt der kleinen Leute“, der „Facharbeiter, Handwerker und Bauern“ aufzuspielen und zugleich gegen Streiks zu hetzen, eine Erhöhung des Mindestlohns abzulehnen, die Renten kürzen zu wollen und Gewerkschaften als Feinde oder allenfalls notwendiges Übel zu betrachten[4]. Und nie vergessen: SPD und GRÜNE waren, unterstützt und angetrieben von der CDU, mit der Agenda-Politik und dem darauffolgenden Sozialabbau sogar die Geburtshelfer einer Lage, von der heute die AfD profitiert.  

Man kann nicht kritiklos gemeinsam mit Leuten auf die Straße gehen, die die Aufklärung von faschistischen Mordserien und Massakern wie NSU und Hanau nach Kräften behindert haben und sogar möglicherweise mitverantwortlich dafür sind: der ehemalige Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt Frank-Walter Steinmeier (2000 – 2005, also genau während der NSU-Aktivitäten), Hessens Ex-Innenminister Bouffier, Rhein, Beuth usw.
Die bisherige Aufklärung dieser faschistischen Verbrechen erfolgte im Wesentlichen durch die Recherchearbeit nichtstaatlicher Gruppen und gegen bis heute andauernden staatlichen Widerstand, während der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Maaßen, heute mit seiner WerteUnion gern zur Zusammenarbeit auch mit der faschistischen AfD in Thüringen bereit, zur Zeit der NSU-Morde den Grundstein seiner späteren Karriere im Inlandsgeheimdienst legte. Die Offenlegung der Rolle eines hessischen Verfassungsschutzmitarbeiters bei der Ermordung von Halit Yozgat durch den NSU in Kassel widerspricht angeblich bis heute dem „Staatswohl Hessens“. [5]

Man kann nicht kritiklos gemeinsam mit Leuten gegen die AfD-Leugner der anbrechenden Klimakatastrophe auf die Straße gehen, die ihrerseits – zB. in der Mobilitätspolitik – einfach weiter wie bisher machen, gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021 im Interesse der Bau- und Autolobby das Klimaschutzgesetz entkernen und damit gegen das Verfassungsgebot und Grundrecht der Nachhaltigkeit verstoßen (Art. 20a GG). Die gesellschaftlichen Konsequenzen, die diese Politik möglicherweise schon in wenigen Jahrzehnten haben kann, werden dann, wenn überhaupt, nur noch mit schärfster, wahrscheinlich faschistischer Repression gegen die einsetzenden Massenfluchten von – Schätzung des UNHCR: etwa 650 Millionen – Überlebenswilliger und daraus resultierenden militärischen Konflikten aller Art unter „Kontrolle“ zu halten sein. Das kann man schon heute wissen und absehen. Nicht diesem Wissen entsprechend entschlossen und schnell zu handeln ist menschenverachtende und kriminelle Untätigkeit gegen die grundlegenden Lebensinteressen der nächsten Generation – getrieben einzig und allein von den Profitinteressen einiger weniger jetzt und in den nächsten Jahren.

Ich finde: die Frage der „breiten Bündnisse“ muss offen, respektvoll, aber konfrontativ in unseren eigenen Reihen diskutiert werden. Solche Bündnisse müssen einen erkennbaren antifaschistischen politischen Kern haben, der von uns nicht zur Disposition gestellt werden darf.

In solchen Bündnissen sollten wir uns dem Schwur von Buchenwald verpflichtet fühlen, den die Überlebenden und die Kämpfer der Selbstbefreiung sam 19. April 1945 ablegten:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“[6]

Wir wissen, was die gesellschaftlichen Wurzeln des Nazismus in letzter Instanz waren: die Herrschaft des Monopolkapitals, des deutschen Imperialismus, des Kapitalismus. An seiner gesellschaftlichen Macht hat sich nichts geändert.  Wir wissen, dass die beiden Sätze des Schwurs nicht voneinander getrennt werden können.
Für eine Welt des Friedens und der Freiheit einzutreten, heißt deshalb, für eine Welt zu kämpfen, in der Faschismus strukturell nicht mehr möglich sein wird – eine Welt nach dem notwendigen Bruch mit Imperialismus und Kapitalismus.

Damit aber können wir noch nicht einmal anfangen, wenn wir es nicht wenigstens laut sagen.

Jedes Mal, wenn wir in Bündnissen ohne solche inhaltlichen Mindestbedingungen kooperieren, verändert das für alle anderen und auch in uns selbst etwas zum Falschen und Unklaren, nährt es Illusionen und Opportunismus. Wir stärken damit objektiv genau das, was wir bekämpfen wollen.

Wie gesagt: es kann ja sein, dass wir derzeit keine Alternative organisieren können. Aber dann müssen wir wenigstens da, wo die Menschen sind, mit denen wir demonstrieren, laut sagen, was ist.
Denn wenn wir noch nicht einmal das tun erklären wir uns für überflüssig.


[1] Ausführliche Begründung der folgenden Zeilen (Juni 2023): https://wurfbude.wordpress.com/2023/10/03/thesen-zur-aktualitat-des-antifaschismus/

[2] https://rheinmetallentwaffnen.noblogs.org/archiv-der-jahre/zwangsarbeit-im-faschismus/

[3] https://wurfbude.wordpress.com/2020/08/21/die-arbeit-der-erinnerung-form-des-widerstands-und-der-befreiung/

[4] Klaus Dörre: https://www.freitag.de/autoren/podcast/klaus-doerre-im-podcast-vier-ideen-wie-wir-die-afd-besiegen-koennen

[5] Wolf Wetzel, https://www.nachdenkseiten.de/?p=37786

[6] E.Carlebach / W. Schmitt / U. Schneider: Buchenwald. Ein Konzentrationslager. Bonn 2000. Faksimile des Schwurs auf der hinteren inneren Umschlagseite

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Die AfD und Israel


Den folgenden Text veröffentlichte die Publizistin Susann Witt-Stahl am 7.2.2024 in „junge Welt“ und im Zusammenhang eines Artikels, in dem es um etliche Belege massiven antipalästinensischen und anti-islamischen Rassismus am Rand der aktuellen Demos gegen Rechts geht (Quelle).
Dass in der AfD ein frenetischer Pro-Zionismus Normalfall ist widerspricht übrigens nicht der Tatsache des dort ebenso tiefsitzenden Antisemitismus. So zeigt die gleich am Anfang des folgenden Textes zitierte rassistische und antisemitische Aussage des ehemaligen Alexander Gauland-Referenten Klonovsky eben genau nicht die Identität von Antisemitismus und Antizionismus. Klonovsky führt vielmehr vor, wie man Antisemit und Prozionist zugleich sein kann.
Schon das ist ein Beleg gegen die „Staatsräson“-begündende Behauptung einer automatischen Identität von beiden Formen rassistischen und nationalistischen Denkens. Es gibt empirisch und weitverbreitet sowohl antisemitischen Zionismus wie auch linken, antirassistischen und antikolonialistischen Antizionismus, der mit Antisemitismus nichts zu tun hat.

Hintergrund: AfD für Israel

2020 warb der Autor Michael Klonovsky, damals persönlicher Referent des AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland, für das Land, das »nur für Juden« ist und »befestigte Grenzen« hat, als völkisches Vorbild für Deutschland – dessen Identität er besonders von »virilen Orientalen« bedroht wähnt. »Ahasver ist sesshaft geworden und rechts«, feierte Klonovsky den jüdischen Nationalismus. Israel sei ein »Vorposten des Westens«.

Björn Höcke versicherte 2021, dass sein faschistischer »Flügel« den prozionistischen Kurs der AfD mitträgt: »Wenn dieses Volk eines aus seiner Geschichte gelernt hat, dann ist es die Erkenntnis, dass es sich nicht auf andere verlassen kann und sich selbst verteidigen können muss«, begründete er im Thüringer Landtag diese Positionierung. Kurz nach dem Massaker vom 7. Oktober in Israel begrüßte Höcke die Ankündigung des Kanzlers, »endlich im großen Stil abschieben« zu wollen, beklagte aber, dass die »schiere Masse der Hamas-Sympathisanten auf Deutschlands Straßen und der unverhohlen geäußerte Judenhass« nicht nur durch eine konsequente »Umsetzung des Konzepts ›Remigration‹« bekämpft werde.

2019 hatte die AfD-Bundestagsfraktion fast geschlossen für den Antrag der FDP »Unterstützung Israels bei Abstimmungen im Rahmen der Vereinten Nationen« gestimmt. »Israel wird am Brandenburger Tor verteidigt«, so Anton Friesen, AfD-Abgeordneter und Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Das betonte der damalige Kofraktionschef Gauland 2018, als die AfD den Antrag »70 Jahre Gründung des Staates Israel« von CDU/CSU, SPD und FDP unterstützte, in dem die »legitimen Sicherheitsinteressen des Staates Israel« als ein zentrales Prinzip der deutschen Außenpolitik festgeschrieben wurden.

Die AfD harmoniert nicht nur mit den anderen Bundestagsparteien, wenn es um die Linie der NATO-gebundenen deutschen Israelpolitik geht. Sie hat auch längst einige der permanent vorgenommenen Radikalisierungen vorgegeben: Sowohl den AfD-Forderungen des Verbots von diversen palästinensischen Organisationen als auch des Stopps der finanziellen Zuwendungen an die UNRWA wurden von der Ampelregierung entsprochen.

Der sich kriegstüchtig rüstende deutsche Imperialismus braucht eine revidierte Geschichtsschreibung, um eine solide Massenbasis zu erreichen. Daher haben die etablierten Parteien, inklusive hegemoniale Teile der Linken, sich die AfD-Hetzrhetorik zu eigenen gemacht, mit der deutsche Schuld auf Linke und Muslime abgewälzt werden soll. Schon vor vier Jahren hatte Beatrix von Storch (AfD) antiimperialistischen Antifas und Black Lives Matter, stellvertretend für alle propalästinensischen Migrantengruppen, bescheinigt: »Ihr seid der neue Faschismus«.

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Die zweite Nakba findet statt. Überlegungen zur aktuellen Lage im Nahen Osten


Die folgenden Thesen entstanden im Verlauf der ersten drei Wochen des Gaza-Kriegs, der am 7.10. 2023 begann. Eine erste Version musste aufgrund der sich entwickelnden Lage und neuer Erkenntnisse schon kurz nach der Veröffentlichung völlig überarbeitet werden. Der vorliegene Text ist das Ergebnis, das noch immer nicht völlig abgeschlossen sein kann und an dem ich weiterschreibe.
Nachträge und Erweiterungen des Textes, die nach dem 10. November 2023 erfolgten, sind daher mit dem Hinweis „update“ gekennzeichnet und stehen in kursiver Schrift.

Ich bedanke mich bei Thanasis Spanidis und Moshe Zuckermann für Zustimmung, Kritik und Hinweise. Für den folgenden Text habe ich die alleinige Verantwortug

Oktober 2023 – Januar 2024, Hans Christoph Stoodt

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1
Ich schicke meine allgemeine These voraus: der Gaza-Krieg 2023 ist anders als die vorangegangenen Kriege dieser Art. Er entwickelt sich vor den Augen der Welt zur Fortsetzung der Nakba von 1947 – 1949. Dafür gab es in Israel nachweislich Pläne, die schon Jahrzehnte vor dem 7. Oktober bestanden und aufgrund dessen bis heute Teil der derzeitigen israelischen Regierungspolitik sind. Zudem beendete er zunächst eine heftige innenpolitische Krise in Israel. Sie ist allerdings nur bis zur Zeit nach dem Krieg verschoben.

2
Es ist nicht möglich, den Angriff der Hamas auf israelisches Staatsgebiet vom 7.10. außerhalb des Kontexts von israelischer Besatzung und palästinensischem Widerstand in seiner Geschichte und Gegenwart zu verstehen.
Ebenso wenig ist es möglich, die aktuelle israelische Reaktion und ihre Ziele im Gaza-Krieg unabhängig vom Charakter Israels als eines siedlerkolonialistischen Apartheidstaats zu verstehen.
Auch diese Charakterisierung ist umstritten – nicht ohne Grund. Würde zB. die Bundesregierung der Charakterisierung Israels als eines Apartheidstaats zustimmen, wie das amnesty international 2022 detailliert dargelegt hat, erwüchsen der deutschen Außenpolitik daraus unmittelbare Rechtspflichten, gegen Israel vorzugehen. Der Internationale Gerichtshof ist derzeit mit der Frage einer solchen Bewertung bereits beschäftigt (Muriel Asseburg 2022).

3
In der Folge wäre die Anerkennung dieser international wissenschaftlich wie politisch von zunehmend vielen geteilten Charakterisierung der Politik und der politischen Struktur des Staats Israel das voraussichtliche Ende der sogenannten deutschen Staatsräson. Diese lautete 2005 in ihrer ersten Formulierung durch den damaligen deutschen Botschafter in Israel, Rudolf Dressler: „Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.“ (Markus Kaim 2015) Es geht bei der deutschen „Staatsräson“ in Wahrheit also zuerst um das nationale Interesse Deutschlands – und nicht um die Schuld der in Nazifaschismus wie heute herrschenden Klasse in Deutschland an der Sho’ah. Im Interesse der aktuellen Politik Deutschlands und seiner „Staatsräson“ ist es daher vor allem, Israel, seine gesellschaftliche Struktur und sein politisches Verhalten anders darzustellen, als es in der Realität ist.

Verweis auf den ICJ-Prozess in Den Haag und die Äußerung des deutschen Regierungssprechers Steffen Hebestreit vom 12.1.2024 dazu.
Mögliche Konsequenzen für die „Staatsräson“ und für deutsche Regierungsmitglieder, sowie die US-Regierung nach der Ankündigung Südafrikas, rechtlich gegen sie vorzugehen.
Äußerung des namibischen Staatspräsidenten zur Erklärung von Hebenstreit, 13.1.2024
.

4
Über das konkrete militärische und politische Ziel und Konzept der Hamas-Aktion vom 7. Oktober ist wenig bekannt.
<Update: noch immer scheint es keine umfassende offizielle Stellungnahme der Hamas-Führung dazu zu geben. Allerdings gibt es inzwischen Indizien, die darauf hinweisen, dass die Absicht der Hamas darin bestand, möglichst viele israelische Geiseln zu nehmen. Der investigative US-amerikanische Journalist Max Blumenthal (thegrayzone.com) hat durch eine Analyse von Luftaufnahmen und vor Ort sowohl das Vorgehen der Hamas als auch die Reaktionen der israelischen Bevölkerung und der Armee im Zeitablauf und in Hinsicht auf die eingesetzten Mittel und Methoden zu rekonstruieren versucht.
Sein Fokus liegt dabei auf der offenkundigen Anwendung der israelischen „Hannibal-Direktive“, dazu siehe unten. Jedoch fand er in seiner Analyse auch Hinweise auf die Vorgehensweise der Hamas, die sich deutlich von der weithin veröffentlichten und publizierten Annahme unterscheidet, es handele sich dabei um einen Blutrausch-ähnlichen irrationalen Ausbruch gegen alle erreichbaren Personen. Blumenthal geht davon aus, es habe sich in erster Linie um eine militärische Operation gehandelt, vgl. seinen Artikel „What really happened at Oct 7?“ mit eingebettem Video vom 18.11.2023 (zusätzlich: youtube, ähnlich Electronic Intifada mit zahlreichen Belegen. Helikopter-Angriffe mit Hellfire-Raketen auf geparkte Autos oder Fliehende sehr wahrscheinlich.
In Israel gibt es bereits seit vielen Wochen eine Diskussion über gut belegte Äusserungen israelischer Offiziere, die bestätigen, dass es zB. israelische Panzerangriffe auf Häuser des Kibbuz Be’eri gegeben hat.
Das Infoportal „Occupied News“ hat am 14.1.2024 eine detaillierte Recherche zum 7.10.2023 vorgelegt, Beleg s.u. Sie kommt zu ähnlichen Ergebnissen.>

Die israelische Reaktion in den Tagen bis zur ersten Feuerpause am 24.11.2023 darauf zielt ausdrücklich, in dieser Form erstmalig, auf die restlose Vernichtung der Hamas ab. Angesichts allein der räumlichen Verhältnisse im Zielgebiet der israelischen Kriegshandlungen ist es ausgeschlossen, daß dieses Ziel ohne enorme Verluste an Menschen und Einrichtungen Gazas erreicht werden kann.
Darüber hinaus weist das militärische und politische Vorgehen Israels daraufhin, dass noch sehr viel weitergehende Ziele mit der Aktion gegen Gaza beabsichtigt sind, die bei der jetzt sich bietenden Gelegenheit offenbar durchgesetzt werden sollen.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Gazastreifen besteht aus Kindern und Jugendlichen.
<Update: Seit dem Angriff der Hamas auf israelisches Staatsgebiet am 07. Oktober 2023 sind bis zum 24.11.2023 rund 1.200 israelische und ausländische Todesopfer und mehr als 5.431 Verletzte in Israel verzeichnet worden. Ihnen stehen im Gazastreifen 14.800 Getötete und mehr als 35.000 Verletzte gegenüber. (statista, 24.11.2023).
Update 15.1.2024: man kann heute von ca. 30.000 Toten auf palästinensischer Seite ausgehen – 23.000 belegbare Kriegsopfer plus geschätzte 6000 Tote unter den Trümmern. Ca. 70% der Opfer sind nach UN-Angaben Frauen, Jugendliche, Kinder.>

5
Zunächst ist es deshalb nicht unwesentlich, sich über den Charakter des aktuellen Kriegs zu verständigen. In der internationalen Öffentlichkeit wie auch besonders in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Scholz am 12.10.2023 wird regelmäßig hervorgehoben, bei dem von Israel mit Erklärung des Kriegszustands begonnenen militärischen Maßnahmen handele es sich um Akte der Selbstverteidigung gemäß Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen. Das wird trotz der großen Einmütigkeit, mit der das auch international immer wieder betont wird, mit nachvollziehbaren Gründen jedoch auch bestritten: der besagte Artikel findet nämlich üblicherweise keine Anwendung auf eine Situation, in der eine Besatzungsmacht in besetzten Gebieten handelt. Das Recht auf militärische Selbstverteidigung gilt zwischen Staaten und ist Teil ihrer internationalen Beziehungen (Gregor Schirmer 2006; Clive Baldwin 2023).
Update: Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Besetzten Gebiete Palästinas, Francesca Albanese, hat vor kurzem die Position des Internationalen Gerichtshofs und der Vereinten Nationen dazu klargestellt: Israel kann sich nicht auf Art. 51 der UN-Charta berufen. Denn wenn die Bevölkerung oder Teile dieser Bevölkerung eines Territoriums unter Besatzung sich gegen die Besatzer erheben und Widerstand gegen die Besatzung leisten, kann der Besatzerstaat sich nicht auf ein Selbstverteidigungsrecht im völkerrechtlichen Sinn des Wortes gemäß Art. 51 UN-Charta berufen (Francesca Albanese, 2023).

6
Gaza aber ist seit 1967 von Israel illegal besetzt. Das gilt auch nach dem völligen Rückzug Israels aus Gaza und der anschließenden vollständigen Blockade des Gazastreifens von allen Seiten seit dem Jahr 2007, die ja auch militärisch derzeit eine bedeutsame Rolle spielt (Abschalten der Elektrizität, Schließen der Nahrungsmittelversorgungswege, Blockade der Grenze für Fliehende nach Ägypten durch wiederholte Luftangriffe auf oder bei Rafah). Nach geltender völkerrechtlicher Sicht ist Gaza weder juristisch noch faktisch ein souveräner Staat, sondern juristisch Teil der von Israel als Staat explizit nicht anerkannten Palästinensischen Autonomiegebiete, faktisch von den Besetzten Gebieten der Westbank abgeschnitten und politisch von ihnen getrennt. Selbst wenn Staaten, die Palästina vollständig anerkennen, das anders sehen, gilt es definitiv nicht für Israel, dessen Regierungen dies eben nicht tun. Insofern ist fraglich, ob Art. 51 der UN-Charta hier anwendbar ist. Beruft sich Israel auf das aus diesem Artikel folgende Recht, erkennt es de facto Palästina, dessen Teil Gaza unzweifelhaft ist, als Staat an. Dasselbe gilt für alle anderen Staaten, zB. die Bundesrepublik oder die USA.
Die Frage, welche Art Krieg sich hier abspielt, ist politisch nicht bedeutungslos. Die Alternative zur Charakterisierung des Gazakriegs als einem zwischenstaatlichen Krieg, wie er von Israel und seinen Verbündeten gesehen wird, ist, diese Kampfhandlungen als einen Kolonialkrieg Israels gegen eine um Selbstbestimmung kämpfende Bevölkerung und deren Organisationen zu verstehen – und genau das ist aus historischer und heutiger Perspektive für mein Verständnis der Fall.

7
Das schließt das Recht auf militärische Selbstverteidigung zum Schutz des israelischen Staatsgebiets und israelischer Bürger:innen gegen bewaffnete Angriffe aus dem Gazastreifen nicht aus. Dieses Israel zustehende Selbstverteidigungsrecht gilt allerdings gleichermaßen auch für die Bewohner:innen Palästinas in allen seinen Gebieten, und die Frage, wer diesmal angefangen hat, ist auf dem Hintergrund der Gesamtsituation des offenen zionistisch-palästinensischen Konflikts seit den 1920er zu bewerten.

8
Mehr noch: das Recht auf auch bewaffneten Kampf gegen eine fremde Besatzung ist zumindest Völkergewohnheitsrecht, wenn nicht sogar im Völkerrecht fest verankert (Gregor Schirmer 2006). Der Kampf der palästinensischen Nationalbewegung für Befreiung von Besatzung und Belagerung sowie einen eigenen Staat und weitere politische Ziele, zB. das Rückkehrrecht, ist international weithin anerkannt und steht außer Frage.

9
Jede palästinensische Führung hat damit das völkerrechtlich verbriefte Recht zum Widerstand bis hin zum militärischen Kampf gegen die Besatzung Palästinas durch Israel. Das ist die Konsequenz der seit 1967 andauernden Besatzung in all ihren unterschiedlichen Formen. Das Ziel dieses Kampfes ist das unveräußerliche Recht Palästinas auf Selbstbestimmung (zB. Mandela 1990).

10
Von diesem Aspekt kann und muss der Aspekt einer politischen oder moralischen Bewertung des Angriffs der unter Hamas-Führung stehenden bewaffneten Milizen des Gazastreifens unterschieden werden. Aus meiner Sicht ist die Hamas ohne Zweifel die im Gaza-Streifen verantwortliche Widerstandsbewegung und als solche anzuerkennen. Dagegen ist sie in meinen Augen keine Befreiungsbewegung im linken Sinn. Ihre theokratischen politischen Ziele jenseits der nationalen Befreiung zB. sind in meinen Augen problematisch.

11
Dazu muss unabhängig von solchen zu diskutierenden Fragestellungen aber zunächst klargestellt werden, dass es die vor allem auf israelischen, europäischen und US-Druck stattgefundenen Wahlen des Jahres 2006 im Gazastreifen waren, aus denen der Wahlsieg der Hamas und die Niederlage der Fatah resultierte. Diese Wahlen standen unter internationaler Beobachtung und wurden seinerzeit im Ergebnis als im Ganzen fair und frei bezeichnet. Weil die bis dahin regierende Fatah diesen Wahlausgang nicht akzeptieren wollte, kam es zu Spannungen, die 2007 durch eine militärische Auseinandersetzung zwischen Hamas und Fatah zugunsten ersterer entschieden wurde. Die Hamas-Regierung, die seither den Gazastreifen führt, ist also nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen. Das festzustellen impliziert keine Bewertung der Regierungstätigkeit der Hamas im Gazastreifen, an der international immer wieder auch schwere Kritik geäußert wird. Allerdings hat das zahlreiche internationale Organisationen bisher nicht dazu veranlasst, ihre Beziehungen zu dieser Regierung abzubrechen.

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Die damalige israelische Regierung erreichte damit ein von ihr angestrebtes Ziel: die Schwächung der PLO und damit die faktische politische Spaltung der palästinensischen Nationalbewegung und ihres Territoriums. Wahrscheinlich richtig ist die immer wieder geäußerte Annahme, dass Gründung und Aufbau der Hamas als islamistischer Konkurrent zu nationalistischen (Fatah) oder linken palästinensischen Bewegungen (PFLP, DFLP, KP Palästinas), die unter dem Dach der PLO zusammenarbeiten, nicht ohne Einflussnahme Israels geschah. Das folgt einem altbekannten Muster kolonialistischer Aufrechterhaltung der Macht durch Aufspaltung der antikolonialistischen Bewegung seitens der Kolonialisten und sogar Bündnisse mit vorzugsweise deren reaktionärsten Gruppierungen (Marc Thörner, 2010). Aus der jüngeren Vergangenheit ist das zB. aus den Auseinandersetzungen zwischen ANC und PAC im Kampf gegen die südafrikanische Apartheid bekannt und belegt.

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Es ist also zu konstatieren: nicht nur die gewählte Hamas-Führung, sondern jede Führung des Gazastreifens hätte unter den gegebenen politischen Bedingungen das Recht auf militärische Aktionen gegen Israel als Besatzer. Das ist so – unabhängig von der Bewertung der weiteren politischen Ziele dieser Führung über das Recht auf Selbstbestimmung Palästinas hinaus oder den jeweiligen Methoden ihrer Kampfführung.

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Diese Methoden und Formen sind die einer antikolonialen und asymmetrischen Kriegsführung, wie sie seit Jahrzehnten bekannt ist und praktiziert wird – einschließlich der Gräueltaten, die interessierte Propagandisten des status quo regelmäßig sofort über diesen Kampf verbreiten, und die später oft leise wieder dementiert werden müssen – wie auch im hier diskutierten Fall. Damit soll nicht in Abrede gestellt oder gar gerechtfertigt werden, daß es zu solchen Gräueltaten nicht auch kommt oder kam. Aber die weitgehend entpolitisierten und dekontextualisierten Empörungs-Ausbrüche gegen die aktuellen militärischen Aktionen palästinensischer Milizen klingen sehr ähnlich denen, die vor wenigen Jahrzehnten gegen die UmkhontoWeSizwe-Kampfverbände des ANC in Südafrika, des Vietcong in Süd-Vietnam, der FNL in Algerien usw. vorgebracht wurden. Das Ziel solcher Vorhaltungen ist die Delegitimierung nicht der einzelnen, oft genug sicher zu verurteilenden Gewalttat – worin bestand der politische und militärische Sinn des Angriffs zB. auf ein Musikfestival oder einen unbewaffneten Kibbuz? – sondern des militanten Widerstands und des Kampfs um Selbstbestimmung insgesamt, der gefälligst „gewaltfrei“ zu verlaufen habe.
Deshalb ist zuerst einmal klar zu sagen: es ist nicht unsere Aufgabe, aus bequemem Abstand die Mittel und Methoden einer legitim um Befreiung kämpfenden Bevölkerung zu beurteilen, zumal in einer derart unklaren Informationslage.
Zudem, und ohne, daß man sie und ihren Kampf politisch in eine Reihe mit den gerade angeführten Beispielen stellen könnte: gerade auch der zeitweise asymmetrische Kampf zionistischer Milizen bis 1948 und unmittelbar danach war nicht immer „zivilisierter“ – wer es nicht glaubt, möge es bei dem israelischen Historiker Ilan Pappé detailliert nachlesen.
Dasselbe gilt erst recht für die offensichtlichen Kriegsverbrechen, die im Namen eines sich selbst als zivilisierter Rechtsstaat, als einzige Demokratie der Region mit der angeblich moralischsten Armee der Welt vor deren Augen begangen werden. Sie stehen in der Tradition einer zionistischen Politik der ethnischen Säuberung, die für den Zeitraum vor und nach 1948 bisher nur deshalb nicht überall so bezeichnet wird, weil es den entsprechenden Rechtstatbestand damals noch nicht gab. Es gibt ihn erst seit dem Jugoslawienkrieg 1999. Er kann rechtlich nicht rückwirkend auf die Nakba angewandt werden, historisch und politisch aber ist eine solche Beschreibung völlig angemessen (Ilan Pappé, 2019).


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Im Rahmen dieses Referats kann und soll nicht dargestellt werden, dass die Praxis ethnischer Säuberung und großflächiger Vertreibung der arabischen Bevölkerung Palästinas seit der Entscheidung der Zionistische Weltorganisation, einen jüdischen Nationalstaat in Palästina von Anfang an – und nicht erst etwa seit Bekanntwerden der Sho’ah – mitgedacht wurde. Das war nicht möglich ohne die Entwicklung kolonialistischer und rassistischer, sowie, in einem Teil der zionistischen Bewegung, bibelfundamentalistischer Ideologeme.
Die Entscheidung der WZO [Zionistische Welt-Organisation] für Palästina als Ort des zukünftigen »Judenstaates«, nachdem auch Argentinien und Uganda in der Diskussion gewesen waren, ging einher mit einer fundamentalistischen Bibelauslegung, die trotz des zunächst vorwiegend säkularen Charakter des Zionismus eine zentrale Rolle spielte bei der Legitimation des zionistischen Anspruches auf das Land Palästina, das damals zum Osmanischen Reich gehörte. Dort lebten zu diesem Zeitpunkt etwa eine Million Palästinenser, die dem Land seinen spezifischen Charakter gaben, darunter 4 % Juden. Der Bezug auf biblische Versprechen war indessen keine zionistische Erfindung, sondern ist charakteristisch für alle siedlerkolonialistischen Projekte.“ (Petra Wild, 2013, S. 13).
Theodor Herzl glorifizierte das zionistische Vorhaben mit den Worten: „Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.“ (zit. nach Petra Wild, a.a.O).
Israel Zangwill brachte die Parole »Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« in Umlauf, die nicht bedeutete, dass die Anwesenheit einer einheimischen Bevölkerung der zionistischen Bewegung nicht bekannt war, sondern vielmehr, dass diese nicht als vollwertige Menschen, nicht als an die europäischen Siedler heranreichende Menschen angesehen wurden.
Der langjährige Vorsitzende der WZO, Chaim Weizmann, zum Beispiel fand:
Es gibt einen fundamentalen Qualitätsunterschied zwischen Jude und Eingeborenem.“
Als der Leiter der „Kolonisationsabteilung der Jewish Agency“ ihn über die Araber in Palästina befragte, antwortete er: »Die Briten haben uns gesagt, dass es dort einige Hunderttausend Neger gibt, die keinen Wert haben.«“ (Ben White, Israeli Apartheid. A Beginner’s Guide, London/New York 2009, S. 16f; vgl. insgesamt: Petra Wild, 2013, S. 16f).

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Aus diesem Vorhaben folgte von vornherein die Notwendigkeit, sich irgendwie zur Tatsache zu verhalten, daß am Ort des künftig aufzubauenden zionistischen Staats über eine Million Menschen lebten, die dazu nie befragt worden waren. Deshalb wurde schon früh, seit Beginn der 1930er Jahre, diskutiert, was man seither den „Transfer“ dieser lästigen arabischen Bevölkerung nannte:
Das Ziel der zionistischen Bewegung war die Übernahme des gesamten Mandats-Palästinas und die Ersetzung der einheimischen Bevölkerung durch eine europäische Siedlerbevölkerung. Dem Vorsitzenden der Zionistischen Weltorganisation, Chaim Weizmann, zufolge sollte Palästina so jüdisch werden, wie England englisch ist. Das war nur zu erreichen, indem die einheimische Bevölkerung vertrieben wurde. Das hatte bereits Theodor Herzl nahegelegt: »Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Land jederlei Arbeit verweigern.«
Alle zionistischen Fraktionen waren sich über die Notwendigkeit eines »Transfers« – wie die Vertreibung euphemistisch genannt wurde – der einheimischen Bevölkerung einig. Ab Mitte der 1930er Jahre wurden mehrere aufeinander folgende Komitees eingesetzt, die Möglichkeiten zum »Bevölkerungstransfer« untersuchen sollten.
David Ben-Gurion, ein weiterer Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation, sagte auf dem 20. Kongress der WZO mehr als eine Dekade vor der Gründung des Staates Israel: »Die wachsende jüdische Macht im Land wird unsere Möglichkeiten, einen großen Transfer auszuführen, erhöhen.«
Der langjährige Vorsitzende des Jüdischen Nationalfonds (JNF), Joseph Weitz, erklärte auf einem Treffen des »Transferkomitees« 1937, warum die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung notwendig war: »Der Transfer der arabischen Bevölkerung aus dem Gebiet des jüdischen Staates dient nicht nur einem Ziel – der Verringerung der arabischen Bevölkerung. Er dient auch einem zweiten, nicht weniger wichtigen Ziel, nämlich das Land zu evakuieren, das gegenwärtig von Arabern besessen und kultiviert wird und es so für die jüdischen Einwohner freizumachen.«
1940 notierte Joseph Weitz in seinem Tagebuch, dass eine Koexistenz mit den Palästinensern im Rahmen des zionistischen Projekts unmöglich sei: »Unter uns muss klar sein, dass es im Land keinen Platz gibt für beide Völker zusammen. (…) Mit den Arabern werden wir unser Ziel, ein unabhängiges Volk in diesem Land zu sein, nicht erreichen. Die einzige Lösung ist Eretz Israel, zumindest der westliche Teil Eretz Israels, ohne Araber (…) und es gibt keinen anderen Weg, als die Araber von hier in die benachbarten Länder zu transferieren, sie alle zu transferieren. Nicht ein Ort oder Stamm soll übrigbleiben und der Transfer muss auf den Irak, Syrien und sogar Transjordanien gerichtet sein. Zu diesem Zweck wird Geld aufzutreiben sein, viel Geld; und nur durch diesen Transfer kann das Land Millionen unserer Brüder aufnehmen. Es gibt keine Alternative dazu …«
(Petra Wild, 2013).
Es waren solche Äußerungen, diese Politik, die Albert Einstein, Hannah Arendt und andere jüdische Intellektuelle der USA bereits im Dezember 1948 in einem Offenen Brief davor warnen liessen, im soeben gegründeten Israel sei möglicherweise ein neuer Faschismus auf dem Weg zu Macht.

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Um diese „Transferlösung“ in Angriff zu nehmen begannen die zionistischen Milizen Hagana, Irgun Zva’i Le’umi (Etzel), Stern-Gruppe und andere bereits vor dem Ende des britischen Mandats, ab Dezember 1947, gewaltsam palästinensische Menschen zu vertreiben. Die bekannten Massaker von Deir Yassin, Tantura und Huwayma folgten im Mai 1948 1948 – nicht etwa als spontane Gewaltausbrüche, sondern nach sorgfältiger und jahrelanger Planung unter anderem auf der Basis sogenannter Dorfregister – Ilan Pappé hat das detailliert beschrieben (Ilan Pappé, 2019).
Dies führte zur Nakba, über die der heute selbst in manchen linken Kreisen als liberal geltende israelische Historiker Benny Morris 2004 von sich gab: „Ich glaube nicht, dass die Vertreibungen von 1948 Kriegsverbrechen waren. Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen. Man muss seine Hände beschmutzen. (…) Ein jüdischer Staat wäre nicht entstanden, wenn man nicht 700.000 Palästinenser vertrieben hätte“, während Yeshayahu Ben-Porat bereits 1972 in der Tageszeitung „Yediot Ahronot“ aus seiner Sicht feststellte: »Es ist die Pflicht der [israelischen] Führung der Öffentlichkeit klar und mutig eine Reihe von Wahrheiten zu erklären. Eine Wahrheit ist, dass es keinen Zionismus, keine Siedlung und keinen jüdischen Staat gibt, ohne die Araber zu evakuieren, ihr Land zu enteignen und sie abzuzäunen.“ (Petra Wild 2013). Genau diese siedlerkolonialistische Praxis findet heute ihre Fortsetzung, ja, sie spitzt sich heute zu.


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Wer vor diesem historischen Hintergrund den palästinensischen Widerstand ausschließlich unter moralischem Aspekt verurteilt, stellt sich damit entweder offen auf die Seite der international von einer breiten Mehrheit der Völker wieder und wieder verurteilten Nakba und den Ergebnissen der Besatzung seit 1967 oder setzt unausgesprochen voraus, es gäbe auch andere, weniger zu verurteilende, mildere oder gar „gewaltfreie“ Mittel als die des bewaffneten Kampfs gegen die Besatzung. Das müsste dann für die Besatzung, unter der Palästina seit 1948 und 1967 steht, gezeigt werden – eine Situation, in der westliche und Israel verbundene Kreise ja sogar völlig gewaltfreie Widerstandsformen wie die der BDS-Bewegung kriminalisieren und öffentlich ächten, von steinewerfenden Jugendlichen oder individuellen Verzweiflungsattacken ähnelnden Operationen wie Selbstmordattentaten ganz zu schweigen. (Wie man aber die Realität und Genese auch solcher Taten versuchen kann, denkend und mitfühlend und eben nicht arrogant aus einer Position von Oben moralisierend nachzuzeichnen, zeigt der später von einem palästinensischen Fundamentalisten ermordete israelische Schauspieler Guiliano Mehr-Khamis in seinen Film „Arna’s Children“ (2003).)

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Derzeit geht es aber nicht um Messerattacken oder Selbstmordattentate, sondern um Raketenangriffe und Geiselnahmen und inzwischen um einen regelrechten asymmetrischen Krieg, der gleichwohl auch als Terror verurteilt wird. Entsprechend ihres oben skizzierten Charakters als nationale und bürgerliche Widerstandsbewegung mit stark religiöser Ideologie hat die Hamas den aktuellen Krieg in der Tat einer Weise gestartet, den keine linke Befreiungsbewegung gutheißen kann oder in dieser Weise je geführt hätte.
Wenn man sich für die Gründe dafür in einer Weise interessiert, die mehr als das Etikett „Antisemitismus“ umfassen soll, ist anzumerken: mindestens drei Mitbegründer der Hamas (gegründet 1987) haben als Kinder oder Jugendliche Terroranriffe zionistischer Milizen auf ihre Heimatdörfer mit Massenerschießungen von Zivilist:innen miterlebt (Belege bei Zachary Foster).
Die ganze Breite dieser Art von Terror ist bei Ilan Pappé (2019) detailliert dargestellt und kann in seiner bewusst eingesetzten strategischen Bedeutung für die Realisierung der Nakba nicht bezweifelt werden.
Auf beiden Seiten, sowohl in Israel als auch in Palästina kann man damit rechnen, daß Traumata dieser Art – seien es die der Shoah oder die der Nakba – über Generationen weitergegeben werden, wie das in der sozialpsychologischen Forschung unter dem Stichwort der transgenerationalen Traumaweitergabe thematisiert und erforscht wird. Man kann und darf gesellschaftliche Großkonflikte wie den vorlegenden nicht psychologisieren, sollte aber auch nicht die Möglichkeit ignorieren, dass die enorme Heftigkeit, mit der zionistisch-palästinensische Konflikte seit Jahrzehnten ausgetragen wird, sich auch diesen schrecklichen Erfahrungen speist und es nun mit noch größerer Intensität tun wird.. Der aktuelle Gaza-Krieg und die Terrorangriffe, die ihn zunächst auslösten werden mit Sicherheit künftig weitere Generationen belasten, und der israelische Genozid- und Holocaustforscher Raz Segal bezeichnet das Vorgehen der israelischen Armee schon heute als „textbook-case of genocide„.





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Wie soll nun irgendeine palästinensische Führung das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung Palästinas so durchsetzen, dass es auch dem Besatzerstaat und seinen jahrzehntelangen internationalen Unterstützer:innen als annehmbar erscheint? Das ist offenbar unmöglich.
Und wie soll der Kampf für die Selbstbestimmung Palästinas außerhalb des Nahen Ostens solidarisch unterstützt werden, wenn selbst so absolut gewaltfreie Mittel wie die der BDS-Bewegung als antisemitische Terrorunterstützung etikettiert, Solidaritätsdemonstrationen in tausenden von Kilometern vom Kriegsgebiet gelegenen Städten wie Frankfurt oder Berlin polizeilich aufgelöst und die linke, nicht etwa islamistische Solidaritäts-Organisation Samidoun ganz einfach verboten wird?
Aber auch das ist nicht neu – noch vor wenigen Jahrzehnten galt allein schon der Aufruf zum Boykott südafrikanischer Waren als der „Terrorunterstützung“ des ANC und ihres perhorreszierten Vorsitzenden Nelson Mandelas verdächtig – heute gilt der Aufruf zum Boykott israelischer Waren manchen des Antifaschismus ansonsten völlig unverdächtigen „Antisemitismusbeauftragten“ als Fortsetzung des Nazi-Boykotts gegen jüdische Geschäfte am 1. April 1933.

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Eine ganz andere Frage bezieht sich auf die innere Verfasstheit Israels zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs. Mit dem Überraschungsangriff auf israelisches Territorium war jedenfalls eine ans Mark der israelischen Gesellschaft rührende innenpolitische Krise der rechten bis faschistoiden Regierung Israels vorläufig beendet. Historiker werden später einmal herausfinden, wie überraschend dieser Angriff wirklich kam und warum eigentlich – denkwürdig bleibt die wenige Stunden nach dem Angriff erfolgte Twitter-Charakterisierung des Vorgangs als „our Pearl Harbor“ durch ein rechtes Knesseth-Mitglied, sekundiert von Genozid-Aufrufen nach einer „Nakba 2.0“.

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Die in Deutschland lebende israelische Soziologin Yael Berda hat in einem Interview mit der taz bereits über einen Monat vor dem Beginn des Kriegs darauf hingewiesen: in der innenpolitische Krise der Netanyahu-Regierung geht es um „die Beziehung zwischen Besatzung, Siedlungsprojekt und autoritärem Justizputsch“ (Yael Berda 2023). Würden die Rechte des israelischen Obersten Gerichts derart beschnitten, wie es die Netanyahu-Regierung plane – was inzwischen geschehen ist – drohten aufgrund der internationalen Einstufung einer solchen Politik drastische Konsequenzen für einzelne Bürger:innen: „Sehen Sie sich die Bewegung von Reservisten der Luftwaffe an, die im Zuge des Justizcoups Dienstverweigerung angekündigt haben. Die haben große Angst. Wenn das Oberste Gericht in Israel abgeschafft werden sollte, könnten sie bald selbst in Den Haag landen. Viele Reserve-Piloten, die jetzt ihren Dienst verweigern, tun das, weil sie fürchten, Dinge, die sie unter dem Deckmantel liberaler Rechtsstaatlichkeit in den besetzten Gebieten jahrzehntelang tun konnten, nicht mehr tun zu können. Das ist ein koloniales Argument. … Wenn der IStGH tatsächlich ein Verfahren eröffnet und Dinge, die im Rahmen der Besatzung passiert sind, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden, werden sich zahlreiche Menschen tatsächlich in Den Haag vor Gericht verantworten müssen. Das erklärt die Angst israelischer Reservisten. Israels Oberstes Gericht hat deren Aktionen immer entweder für rechtmäßig erklärt oder es folgte – selbst wenn es die Aktionen als illegal einstufte – in der Regel ein geringfügiges Verfahren.“ (ebenda) Zusätzlich zu dieser Drohung ergäben sich heftige juristische Konsequenzen aus einem drohenden Einstufen des gesamten Systems der 1967 besetzten Gebiete als Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den Internationalen Gerichtshof. Das Verfahren dazu ist im Gang. Dazu Yael Berda: „Ich denke, das Nationalstaatsgesetz, das 2018 verabschiedet wurde, hat viel verändert. Dies war die erste gesetzliche Erklärung der exklusiven Zugehörigkeit von Juden zu Israel. Es implizierte auch eine explizite Nichtanerkennung palästinensischer Selbstbestimmung. Dazu kommt, dass sich die De-facto-Annexion des Westjordanlands in eine De-jure-Situation verwandelt. Einige Beobachter beginnen zu verstehen, dass sich ein Zeitfenster schließt.“ (ebenda)

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Das Zeitfenster schließt sich. Ich nehme an, auch das beschleunigt eine Entwicklung, in deren Rahmen die israelische Regierung jetzt Fakten schaffen will. Nach einem am 24. Oktober geleaktem offiziellen und inzwischen auch offiziell in seiner Existenz bestätigten Dokument der israelischen Ministerin des Sicherheitsdienst-Ministeriums Gila Gamliel soll die Situation nach dem Gazakrieg folgendermaßen aussehen: Zeltstädte auf der Sinai-Halbinsel soll die gesamte Bevölkerung von Gaza aufnehmen, die mit einem humanitären Korridor versorgt und schließlich im Nord-Sinai auf dort mit internationaler Hilfe zu errichtenden Städte aufgenommen werden, die durch eine mehrere Kilometer breite „sanitäre Zone“ von Israel getrennt werden soll (Lina Attalah 25.10.2023, zit. nach Zachary Forster 2023; ebenso Itay Epshtain, 29.10.2023). Update: Gila Gamliel bekräftigte als Regierungsmitglied Israels diese Forderung nach einem Kriegsverbrechen noch einmal in einem Artikel der „Jerusalem-Post vom“ 19.11.2023 (Gila Gamliel, 2023)

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Dieser Plan sieht vor:
1. Die Palästinenser sollen zunächst aufgefordert werden, vom Norden Gazas in den Süden zu evakuieren.
2. Eine Propagandakampagne soll die Verantwortung für Palästinenser auf Ägypten übertragen.
3. Eine weitere Propagandakampagne soll ununterbrochen darauf hinweisen, dass jedweder zivile Leid in Gaza auf die Hamas zurückzuführen sei.
4. Vor allem die USA sollen von Israel überzeugt werden, Zeltstädte in Ägypten, in der Wüste Sinai zu errichten. Druck solle insbesondere auf Griechenland, Spanien und Kanada aufgebaut werden, Flüchtlinge aufzunehmen.
5. Palästinenser sollen durch Propaganda wie „Allah wollte es so für euch, dass ihr eure Heimat verliert, sucht Sicherheit bei euren muslimischen Brüdern“ (Zitat) zu einer Aufgabe ihrer Heimat gedrängt werden.
6. Zur Realisierung des Plans sollen die USA „Druck auf Ägypten, Katar, die Türkei und Saudi-Arabien“ aufbauen. Die EU oder Deutschland werden in dem Papier offenbar nicht als Hindernis dieser ethnischen Säuberung betrachtet.
7. Als Best Case Szenario wird die „Auswanderung“ der Palästinenser beschrieben, die eine „Abschreckung“ gegenüber allen Menschen in der Region sei. Das Worst Case Szenario sei „die Entstehung eines palästinensischen Staates.“ (Sicha Meqomit 2023).
Das Info-Portal postet dazu: „Weniger als eine Woche nach dem Massaker der Hamas im Süden veröffentlicht das Geheimdienstministerium ein Dokument, das den Krieg nutzen will, um eine vollständige Umsiedlung der Bewohner von Gaza in den Sinai durchzuführen. Das gefährlichste mögliche Ergebnis ist dem Dokument zufolge die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staats.“ Die Überschrift des dazu verlinkten Artikels vom 13.10.2023 lautet „Vorschlag des Sicherheitsdienstministeriums: Besetzung von Gaza und Transfer aller seiner Bewohner“ (Sicha Meqomit, 30.10.2023). Wohlgemerkt: dies ist bisher nur der Vorschlag der dem Likud angehörigen Ministerin des Geheimdienstministeriums – noch nicht offizielle Regierungspolitik. Aber das derzeitige Kriegsgeschehen weist genau in diese Richtung. Wie sich Ägypten und die internationale Gemeinschaft zu solchen Plänen verhalten wird, wird man sehen.

25
Dasselbe gilt nach Plänen, die der hochrangige israelische Sicherheitsexperte Eliyahu Yossian, Mitarbeiter des renommierten Mashgev-Instituts für Nationale Sicherheit und Träger des Israelischen Verteidigungspreises vor einigen Tagen veröffentlichte: demzufolge sind nicht nur unterschiedslos alle Bewohner:innen von Gaza Feinde Israels, sondern auch die Bewohner:innen der Westbank, wie er in einem Interview mit der Tageszeitung Ma’ariv erklärte (Tarek Baé, 30.10.2029).
Der gerade völlig offen wieder in die Diskussion gebrachte Begriff des Transfers – da ist er wieder in seiner ganzen historischen Tradition, wie sie oben skizziert wurde. Schon damals beinhaltete er die siederkolonialistische Wahnidee, man könne einfach alle Bewohner:innen Palästinas in die Nachbarstaaten eines aufzubauenden ethnisch homogen jüdischen Israels „transferieren“ – analog etwa zu den berüchtigten Zwangsumsiedlungen in Apartheid-Südafrika. Zahllose Belege zu diesem historischen und aktuellen zionistischen Sprachgebrauch und seinem Inhalt liegen vor (Ilan Pappé 2019, Petra Wild 2013, Zachary Forster, 2023). Nicht erst jetzt – schon seit längerem wird das von Vertretern der zionistischen Rechten auch für das ursprüngliche Staatsgebiet Israels in den Grenzen von 1967 gefordert. So äußerte Zipi Livni, Ex-Außenministerin Israels 2008 vor israelischen Studenten: „… unter anderem werde ich in der Lage sein, mich an die palästinensischen Bewohner Israels, die wir israelische Araber nennen, zu wenden und ihnen zu sagen: ‚Eure nationale Lösung liegt anderswo.‘“ (Petra Wild 2007, S. 40) Das liefe dann auf eine Vertreibung nicht nur der Bewohner:innen der Besetzten Gebiete in Westbank und Gaza, sondern auch von 20 – 30% israelischen Bevölkerung hinaus: ein klarer Fall ethnischer Säuberung, der zB. mit den Vorgängen im Jugoslawienkrieg grausig übereinstimmt.

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Man muss auf dem Hintergrund all dessen also leider davon ausgehen: die Regierung Israels definiert als strategisches Ziel heute und in der nahen bis mittleren Zukunft die Vollendung der Nakba mindestens in Gaza und Westbank, die Vertreibung der Bevölkerung Palästinas in die benachbarten arabischen Staaten. In einer Ansprache zu von ihm angekündigten zweiten Phase des Kriegs gegen Gaza erklärte Netanyahu am 29.10.2023, die Situation gleiche dem Kampf des biblischen Israel gegen das das Volk Amalek. Dazu heißt es in 1. Samuel 15:3, Israel solle „alle Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge, Ochsen, Schafe, Kamele und Esel“ Amaleks restlos vernichten. Das ist ein Völkermord mit Ansage und fundamentalistisch-biblischer Begründung. Was Netanyahu in seiner typisch pathetischen Manier als gleichsam Richter Samuel redivius hier von sich gibt, hört sich in der militärischen Praxis maßgeblicher Exponenten der israelischen Armee folgendermaßen an: „Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht Präzision„. Er folgt der öffentlich bekanntgegebenen „Dahiya-Doktrin“, benannt nach einem Vorort von Beirut, wo sie 2006 zuerst angewandt wurde. Sie besteht in der planvollen Zerstörung aller erreichbaren Infrastruktur, egal ob militärisch oder zivil. Ihr „Erfinder“ Gadi Eizenkot, israelischer Generalstabschef 2015 – 2019, sagte darüber später: „Was 2006 im Dahiya-Viertel von Beirut geschah, wird in jedem Dorf geschehen, von dem aus Israel beschossen wird. (…) Wir werden dort unverhältnismäßige Gewalt anwenden und großen Schaden und Zerstörung anrichten. Aus unserer Sicht handelt es sich nicht um zivile Dörfer, sondern um Militärbasen. (…) Dies ist keine Empfehlung. Dies ist ein Plan. Und er ist genehmigt worden“.
Ob es am 7.10.2023 auf israelischem Territorium auch zur Anwendung der berüchtigten „Hannibal-Direktive“ gekommen ist, die eigentlich für das israelische Militär offiziell außer Kraft gesetzt wurde, soll Gegenstand späterer Untersuchungen werden, wie zu hören ist (Lena Obermaier 2023). Nach dieser Direktive werden im Fall einer drohenden Geiselnahme israelischer Statsbürger:innen, militärisch oder zivil, alle verfügbaren Gewaltmittel eingesetzt, um möglichst alle Beteiligten, schlimmstenfalls auch die israelischen, zu töten (Hannibal-Direktive, Dokumentation zu den Hintergründen. Update: es mehren sich derzeit Hinweise darauf, dass ein Teil der Opfer des Hamas-Angriffs auf das Musikfestival am 7. Oktober Opfer durch Beschuss der Situation aus israelischen Hubschraubern sind. Das entspricht dem Vorgehen nach dieser Direktive. Belege dafür, dass das im Bereich des Kibbutz Be’eri tatsächlich so geschah: hier).
Die derzeitige israelische Kriegführung im Gaza-Streifen scheint jedenfalls dem „Dahyia-Plan“ genau zu folgen mit der Absicht, die Transfer-Lösung für die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens vorzubereiten. Wie bereits vor Wochen vom DLF vermeldet wurde, hat Israel in Übereinstimmung mit dem von Gila Gamliel veröffentlichten Vorgehen Ägypten offiziell aufgefordert, Flüchtlinge aus dem Süden des Gazastreifens auf die Sinai-Halbinsel zu übernehmen. Bislang lehnt Ägypten das ab – die Frage ist, wie lange.

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Es sieht im Moment nicht so aus, als würde ein solcher Plan Israels seitens der Rückendeckung gewährenden imperialistischen Staaten des Westens in Frage gestellt, jedenfalls geschieht das nicht öffentlich. Die Grenze der Durchsetzbarkeit dieses angekündigten Verbrechens gegen die Menschlichkeit besteht weniger in der militärischen und innenpolitischen Durchführbarkeit für die Regierung Israels, als eher in der Abwägung seiner Verbündeten, wie sehr ein solches Vorgehen ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen, also imperialistischen Ziele vor allem im globalen Süden beeinträchtigen würde. Das ist ein Ansatzpunkt für unser Eingreifen hier vor Ort.

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Die Krise der israelischen Gesellschaft und ihres Staats nicht erst nach den letzten Knesseth-Wahlen ist gut erklärbar als Ausdruck einer selbstgeschaffenen Aporie, die der israelische Historiker und Philosoph Moshe Zuckermann (Zuckermann, 2007 und 2014) so charakterisiert hat: unter den inzwischen irreversiblen Rahmenbedingungen israelischer Politik kann es letztlich nur noch zwei Endergebnisse der künftigen Entwicklung geben – entweder  eine erneute ethnische Säuberung Palästinas, diesmal vollständig „from the river to the sea“. Oder – heute die unwahrscheinlichere von beiden Möglichkeiten – eine einheitliche säkulare Republik Palästina- Israel mit gleichen Rechten und Pflichten für alle, unabhängig von ethnischer, politischer oder religiöser Herkunft. Zuckermann spitzt zu: beide möglichen Ergebnisse des jahrzehntelangen Konflikts beenden im Grunde das zionistische Projekt eines ethnisch definierten und beherrschten jüdischen Staats: entweder moralisch (erste Variante) oder praktisch-politisch (zweite Variante). Während der zweite Fall zweifellos ein linkes Projekt ist, ist der erste nur möglich dank völlig offener militaristischer und faschistischer Gewalt und mit Unterstützung oder Duldung der großen imperialistischen Staaten des Westens, darunter auch Deutschlands. Der Weg dorthin ist wahrscheinlich bereits zu einem nicht geringen Teil beschritten. Wenn er weiter beschritten werden sollte, hat das nicht nur weitreichende Folgen in Israel – Palästina, sondern auch bei uns.

29
Die schon viele Jahre andauernde Agonie, was den sogenannten Friedensprozess im Nahen Osten angeht, erklärt sich aus der Tatsache, daß jede israelische Regierung vor der Alternative steht, in entweder der einen oder anderen von Zuckermann beschriebenen Weise weiterzugehen und sich bisher nie konsequent für einen der beiden Wege entscheiden konnte, weil es dafür keinen hinreichenden Konsens in der israelischen Gesellschaft gab. Daraus resultiert ein ständiges „Vor-sich-her-Schieben“ der objektiv notwendigen und unausweichlichen Entscheidung, was ein enormes Gewaltpotential, letztlich das Potential zu einer faschistischen Entwicklung in sich trägt. (Übrigens gleicht dieses dilatorische Vorgehen vielleicht am schlimmsten der internationalen wie auch der deutschen Behandlung der kapitalistischen Klimakrise und ihrer politischen Folgen [Stoodt, 2023]).
Das betrifft auch das Scheitern der „Zweistaatenlösung“: alle israelischen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte haben die Siedlerbewegung in den Besetzten Gebieten unterstützt. Sie ist heute so stark und so offen rechtsextrem, daß es keine Regierung wagen könnte, etwa 800.000 schwerbewaffnete und zum Teil fanatisierte Siedler im Interesse einer Zweistaatenlösung fallen zu lassen. Das führt zu der berechtigten Einschätzung linker israelischer Wissenschaftler, der Zionismus habe sich in seinem heutigen Kern zur Ideologie der rechten Siedler entwickelt (Susann Witt-Stahl und Dror Dayan, Zeit der Verleumder, 2017). Es würde zu einem Bürgerkrieg in Israel führen, wenn deren Positionen im Interesse eines umfassenden Friedensprozesses angetastet würden. Umgekehrt kann es sich auch keine palästinensische Führung leisten, sich auf ein derartig zerstückeltes und feinmaschig kontrolliertes Territorium wie die Westbank als „Staatsgebiet“ einzulassen. Die Zweistaatenlösung ist tot (kurze Zusammenfassung aller wesentlichen Argumenten dafür: Gideon Levy, Two-State solution Debate, 2016; Petra Wild 2015). Es bleibt bei den beiden von Moshe Zuckermann beschriebenen Alternativen.

30
Es ist also davon auszugehen, dass mit dem aktuellen Krieg die radikal rechte Regierung Netanyahu die Gelegenheit nutzt, um das Problem „Palästina“ aus ihrer Sicht ein Stück weiter auf dem Weg zu einer endgültigen ethnischen Säuberung im Sinn des Nationalstaatsgesetzes von 2018 zu bringen. Um noch einmal Yael Berda zu zitieren:
Israels Finanzminister Bezalel Smotrich hat alle Behörden der zivilen Administration über das Westjordanland übernommen, sodass es sich schon jetzt nicht mehr um eine militärische, sondern bereits um zivile Besatzung handelt – sprich: eine Annexion de jure, nicht nur de facto. Darauf braucht niemand zu warten. In den jüngsten israelischen Koalitionsvereinbarungen steht jedoch explizit, dass die Regierung palästinensisches Land legal annektieren will. Es geht darum, die Trennung zwischen israelischem Staatsgebiet und den besetzten Territorien sukzessive weiter aufzuheben. … Ziel ist, eine exklusiv-jüdische, nationale Heimstätte zwischen Jordan und dem Meer zu schaffen. Wir sprechen über potenziellen Völkermord. Smotrich hat selbst erwähnt, dass es eine zweite Version der Nakba geben könnte. Itamar Ben-Gvir (Minister für nationale Sicherheit, d. Red.) ist Kahanist. Diese Leute glauben an sprichwörtliche Auslöschung von Palästinensern. Hier sollten in der internationalen Gemeinschaft wirklich alle Alarmglocken angehen.(Yael Berda, a.a.O.)

31
Wohlgemerkt: das sagte Yael Berda Anfang September. Und Netanjahus Auftritt vor der jüngsten Generalversammlung der UN am 22.9.2023, also Tage vor dem 7. Oktober und demonstrativ mit einer Karte des Nahen Ostens ohne Palästina in seiner Hand (OneIndiaNews, 24.9.2023) war aus dieser Sicht kein Zufall.  Aus dem Rückblick von heute hat sie jedenfalls einen schrecklichen Sinn.

32
Der US-amerikanische Historiker Rashid Khalidi hat plausibel dargelegt, dass seit der Balfour-Declaration von 1917 mit der Absichtserklärung des British Empire, ein „National Home für das Jüdische Volk in Palästina“ zu schaffen – ohne auch nur eine Erwähnung des palästinensischen Volks (damals rund eine Million Menschen mit 6% jüdischer Bevölkerung) mit dieser damit gegebenen Struktur begann, bis heute bestand und besteht, die den Rahmen von „The Hundred Year’s War on Palestine“ ausmacht, wie der Titel seines Buches lautet (auch als ausführlicher Vortrag zugänglich). Sie bildet die siedlerkolonialistische Herausforderung des Zionismus, die bis heute besteht: wie bekommen wir möglichst viel palästinensisches Land unter zionistische Kontrolle – und zwar ohne die Menschen, die bislang dort leben? Und sie erklärt die objektive Notwendigkeit für die Apartheid-Strukturen, die sowohl in den besetzten Gebieten Palästinas als auch in Israel selbst herrschen. Der aktuelle Gaza-Krieg lässt sich gut in den Rahmen dieser Struktur verstehen.

33
Was sind unsere Aufgaben in dieser Situation? So schwer es für uns auch umzusetzen sein mag: wir müssen das uns mögliche tun, die drohende Vollendung der Nakba zu behindern und den langen Weg zur politisch einzig denkbaren Alternative hier vor Ort zu unterstützen: eine demokratische Ein-Staat-Lösung Israel-Palästina für alle seine Bewohner:innen anzustreben, unabhängig von ethnischer, religiöser und kultureller Herkunft, Tradition, Lebensweise (Petra Wild, 2015). Das ist internationalistische, antiimperialistische und antifaschistische Pflicht.

34
Konkrete Schritte sind zum Beispiel:

Benennung dessen was ist: es hat eine zweite Nakba begonnen und sie steht in einem unauflöslichen Zusammenhang mit dem hundertjährigen siedlerkolonialistischen zionistische Prozess der „Landnahme“ in Palästina;

praktische Unterstützung der palästinensischen Gruppierungen hier vor Ort, die für die Befreiung Palästinas eintreten;

aktives Zugehen auf linke jüdische / israelische Gruppierungen und Menschen  vor Ort, Organisation gemeinsamer Gespräche und Aktivitäten;

Verteidigung der hiesigen demokratischen Grundrechte und Zurückweisung der herrschenden Einschränkungen (Demoverbote, Verbote bestimmter Sprechchöre, Verbot des Tragens von Kleidung in den Farben Palästinas an Schulen, des Verbots der Kuffiya oder des Tragens der Fahne Palästinas in der Öffentlichkeit), und der nicht zuletzt auch extrem rechten Demagogie, diesen Kampf als antisemitisch zu diskreditieren, Hinweis auf die frappierenden Doppelstandards in diesem Zusammenhang (Aiwangers Auschwitz-Flugblatt vs. Umgang mit Palästina-Demonstrationen);

ideologische und politische Auseinandersetzung mit der so genannten „Staatsräson“ Deutschlands und ihres in Wahrheit imperialistischen politischen Inhalts – aktuell insbesondere auch als Mittel der Abwehr missliebiger Migrantinnen und Migranten (Offener Brief jüdischer Intellektueller 2023);

deutlich machen, dass die einzig möglich erscheinende Alternative zur drohenden Vollendung der Nakba die Forderung nach einer demokratischen Ein-Staat-Lösung ist und dafür offen eintreten;

Formen der politischen, kulturellen usw. aber auch der Repressions- und militärischen Zusammenarbeit Deutschlands mit Israel öffentlich benennen, an geeigneten Punkten diskutieren (zB. mit Eingeladenen aus Partnerstädten) oder auch skandalisieren und öffentlich angreifen (Formen der militärischen Zusammenarbeit);

Unterstützung der internationalen BDS-Kampagne.






























Literatur / Belege

amnesty international,
Israels Apartheid gegen die Palästinenser*innen. Ein grausames Herrschaftssystem und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zusammenfassung
Februar 2022, Link

Francesca Albanese 2023
„Israel cannot claim the right of self-defence“
(https://www.youtube.com/watch?v=nboMW7HkJI8)

„Arnas Children“
Film von Giuliano Mehr-Khamis, 2003
https://youtu.be/b4QXZAfjEFM?si=LTpxrnFsF2VAhnCS

Muriel Asseburg,
amnesty international und der Apartheid-Vorwurf gegen Israel,
swp aktuell, Februar 2022 (https://www.swp-berlin.org/publikation/amnesty-international-und-der-apartheid-vorwurf-gegen-israel)

Tarek Baé, X-Posting 30.10.2023

Yael Berda,
“Es handelt sich um eine Annexion”, Interview taz, 6.9.2023
(https://taz.de/Soziologin-ueber-Israel-und-Palaestina/!5955241/)

Max Blumenthal
What really happened at Oct 7
The Grayzone, 18.11.2023
https://thegrayzone.com/2023/11/18/video-what-happened-october-7/

Itay Epshtain, X-Posting, 29.10.2023
„@mekomit expose shows that the directive to deport 2,4 million Palestinians out of occupied Gaza and onto Egypt and beyond has been officially endorsed by Israels Ministry of Intelligence on 13 October. A war crime in the making!”

Clive Baldwin,
How does International Law Apply in Israel and Gaza?
Human Right’s Watch 2023 (https://www.hrw.org/news/2023/10/27/how-does-international-humanitarian-law-apply-israel-and-gaza)

The Electronic Intifada, 22.11.2023
What we’re now learning about 7 October (https://www.youtube.com/watch?v=G8PWUAtGIBo)

Zachary Foster,
A Brief History of Israels’s Expulsion Politics
Palestine Nexus, Oct 27, 2023, www.palestinenexus.com

Gila Gamliel 2023
„Victory is an opportunity for Israel in the midst of crisis – opinion“
Jerusalem Post, 19.11.2023 (https://www.jpost.com/opinion/article-773713)

Markus Kaim,
Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson. Was bedeutet das konkret?
Aus Politik und Zeitgeschehen, 30.1.2015 (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/199894/israels-sicherheit-als-deutsche-staatsraeson/#footnote-target-2)

Rashid Khalidi
The Hundred Years of War on Palestine. A History of Settler-Colonialism and Resistance 1917 – 2017, 2020 (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=wH8Ip1cvlRY)
deutsche Ausgabe: Der Hundertjährige Krieg in Palästina, Berlin, noch nicht erschienen.

Gideon Levy
Two-State Solution Debate, Oxford, 2016
https://www.youtube.com/watch?v=a5zw3Yz-yas

Nelson Mandela,
Speaking on Palestine (Extracts), New York 1990
https://www.youtube.com/watch?v=i5TiUhhm7cQ&t=625s

Giuliano Mehr-Khamis,
Arna’s Children,
https://youtu.be/_V–Lo84O3w?si=4_oX5ZB_gFhlQyRY

Lena Obermaier,
Genozidale Absichten. Dahyia-Plan und Hannibal-Direktive: Israels Kriegsführung preist Bruch mit dem Völkerrecht ein, in: junge Welt, 30.10.2023
(https://www.jungewelt.de/artikel/462043.krieg-gegen-gaza-genozidale-absichten.html)

Offener Brief jüdischer Intellektueller, taz, 22.10.2023
https://taz.de/Offener-Brief-juedischer-Intellektueller/!5965154/

Oneindia News, 24.9.2023
Israeli PM Benjamin Netanyahu under fire for holding up map erasing Palestine
(https://www.youtube.com/watch?v=XzFQ4wlFhNU)

Occupied News
Der 7. Oktober – Fakten und Propaganda
14.1.2024
https://occupiednews.com/7-oktober-hamas-angriff/

Ilan Pappé,
The Ethnic Cleansing of Palestine, 2006;
Die ethnische Säuberung Palästinas, dritte Auflage (deutsch) 2019, mit einem Geleitwort des Autors
 
Gregor Schirmer,
Recht auf bewaffneten Widerstand oder Terrorismus? Völkerrechtliche Überlegungen, in: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 62, Juni 2005

Sicha meqomit, X-Posting 29.10.2023

Statista, 24.11.2023
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/

Hans Christoph Stoodt,
Thesen zur Aktualität des Antifaschismus https://wurfbude.wordpress.com/2023/10/03/thesen-zur-aktualitat-des-antifaschismus/)

Marc Thörner,
Der Afghanistan-Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie, Hamburg 2010

Petra Wild,
Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina, Wien 2013

Petra Wild,
Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung: Zur Zukunft eines demokratischen Palästinas, Wien 2015

Susann Witt-Stahl und Dror Dayan,
Zeit der Verleumder. Eine ideologiekritische Intervention. Filmbericht von der gleichnamigen internationalen Konferenz, Berlin 2017
https://www.youtube.com/watch?v=A6gkY0eUPXg

Moshe Zuckermann,
Sechzig Jahre Israel – die Genesis einer politischen Krise des Zionismus, Köln 2009

Moshe Zuckermann,
Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt, Wien 2014

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Archiv der Anti-Nazi-Koordination Frankfurt veröffentlicht

Die Anti-Nazi-Koordination (ANK) bestand vom Sommer 2002 bis 2017. Seit 2007 wurde ihre Tätigkeit von einem Blog begleitet und kommentiert. Die damals verfassten über 1300 Beiträge dieses Blogs sind nun in einem Archiv nachlesbar: http://www.antinazifrankfurtarchiv.blog
Ein einleitender Text aus dem Jahr 2017, heute teilweise schon wieder überholt, nimmt zur Entwicklung der ANK aus der Rückschau Stellung. Die gegenwärtige Lage regt Antifaschist:innen vielleicht dazu an, aus dieser Entwicklung ihre zustimmenden oder kritischen Konsequenzen zu ziehen.

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Thesen zur Aktualität des Antifaschismus


Für Eden-Benjamin und seine Eltern Annalena und Mathis zum 1.7.2023

Der folgende Text entstand Ende Juni 2023 als Reaktion auf einen Artikel des bekannten antifaschistischen Autors Ulrich Schneider in der Zeitschrift „Marxistische Blätter“, in dem unter anderem ein Text von mir aus dem Zeitraum 2016/17 kritisiert wurde. Die unten folgenden Überlegungen sind meine Reaktion auf diese Kritik. Leider lehnte es die Redaktion der „Marxistischen Blätter“ ab, ihn unverändert zu veröffentlichen. Er erschien darum in der September/Oktober-Ausgabe von „offen-siv. Zeitschrift für Sozialismus und Frieden„. Ich bedanke mich bei deren Redaktion.
Vorgänge wie der Skandal um den bayerischen FW-Führer Hubert Aiwanger und die Ehrung eines ukrainischen Veteranen der Waffen-SS durch das kanadische Parlament – unter der applaudierenden Zustimmung auch der anwesenden deutschen Botschafterin Sparwasser – sowie, als Krönung, der analogisierende Vergleich der Waffen-SS mit der polnischen „Armija Krajowa“ durch den Sprecher des deutschen Auswärtigen Amts am 27.9.2023 vor der Bundespressekonferenz konnten aufgrund dieser Verzögerungen nicht mehr berücksichtig werden, obwohl sie es ganz sicher verdient hätten.

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Zur aktuellen Diskussionslage

Faschismus und Antifaschismus sind aktuell in der Diskussion. Aus guten Gründen. Ulrich Schneider hat sich im Lauf seines Artikels „Nachdenken über antifaschistische Bündnispolitik“ (Schneider, 2023, S. 34f) auf eine bereits 2016 ausgetragene Kontroverse bezogen und dabei namentlich Jürgen Lloyd und mich kritisch erwähnt. Gerade weil er aus meiner Sicht keinerlei neue Argumente gegen die von ihm kritisierten, unterschiedlichen Positionen von Lloyd und mir beiträgt ist es auf den ersten Blick erstaunlich, daß er zum gegenwärtigen Zeitpunkt diese ältere Debatte noch einmal aufgreift.
In ähnlicher Weise kann man die zum Teil heftigen Reaktionen von Ulrich Sander und Thomas Willms auf einen Artikel von Manfred Sohn zum selben Thema lesen und sich fragen, warum gerade jetzt und mit solcher Energie Fragen der Faschismusanalyse und der antifaschistischen Bündnisarbeit strittig diskutiert werden (Sohn 2023, Sander 2023, Willms 2023).
Ich vermute, hinter diesem Vorgang steht zum einen die gemeinsame Wahrnehmung, daß die seinerzeitige Debatte nicht zufriedenstellend zum Abschluss gebracht wurde, sondern eher ergebnislos versandete.
In ihren Kontext gehören zum einen der Dissens zu einem heute angemessenen Verständnis der vielzitierten Faschismusanalyse des VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 (Stoodt 2017, Brenner 2017, Spanidis 2017), zum anderen Dissense in der Analyse des heutigen Imperialismus, die in der Frage des Ukrainekrieges nicht mehr in ihrem latent bleiben konnten, sondern nun voll zum Ausbruch gekommen sind (Beispiele: Stoodt bereits 2016, Stoodt 2022) und nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten internationalen kommunistischen Bewegung und darüber hinaus zu einer heftigen Debatte geführt haben, die zu ernsten Zerwürfnissen führte und führt.
Zum andern nehmen wir wohl jenseits dieser Auseinandersetzungen gemeinsam und wie viele andere offenbar war, daß es in beiden eng miteinander zusammenhängenden politischen Feldern Faschismus/Antifaschismus und Imperialismus/Antiimperialismus weiterhin Klärungsbedarf in praktischer und theoretischer Hinsicht gibt. Diese Wahrnehmung speist sich aus der überall derzeit ungelösten praktischen Frage, wie wir dem aufsteigenden Faschismus im eigenen Land und international etwas entgegensetzen können, ohne eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage geben zu können: wie, mit wem und mit welchen Erfolgsaussichten?
Hier stehen sich, vereinfacht gesagt, zwei Positionen gegenüber. Die Position derjenigen, die aus ihren Gründen zB. hierzulande meinen, „Alle gemeinsam gegen die AfD“ sei das Gebot der Stunde – und solche, die eine solche Haltung schon immer als verkürzt empfanden; diejenigen, für die Antifaschismus vor allem eine sozusagen strukturell defensive Aufgabe der Verteidigung der erkämpften demokratischen Standards ist und andere, die unter Antifaschismus darüber hinaus auch offensiv den Kampf für solche strukturellen Veränderungen der gesellschaftlichen Bedingungen sehen, die Faschismus letztlich als Möglichkeit ausschließen.
Gemeinsam ist beiden Seiten, daß sie mit dem Faschismus als Möglichkeit und Bedrohung rechnen – was auch immer darunter verstanden und oft genug auch unterschiedlich buchstabiert wird. Zu dieser Diskussionslage, die, was alles noch komplexer macht, ein globales Phänomen ist, eben weil sie auf globale Entwicklungen reagiert, möchte ich im Folgenden aus meiner Sicht Stellung nehmen.


Arbeitsdefinition Faschismus/Antifaschismus

Ich gehe von der Definition des Faschismus aus, die 2018 bei Gründung der Kommunistischen Organisation als Bestandteil ihrer Programmatischen Thesen beschlossen wurde (Kommunistische Organisation 2018, S. 11-13). Sie greift die als richtig anerkannte, bekannte Faschismusdefinition der Komintern auf und weist konkurrierende Positionen zurück. Sie versteht Faschismus als Bewegung der reaktionärsten, chauvinistischsten, terroristischsten Kreise des Finanzkapitals, und, an der Macht, als „Herrschaft des Finanzkapitals selbst“ (Dimitroff 1935, S. 525f). Sie benennt zudem die Problematik, daß die von Georgi Dimitroff im August 1935 vorgetragene Differenzierung von Positionen des nicht-monopolistischem Kapitals zum Finanzkapital und innerhalb des letzteren als herrschender Klasse zu einer Rezeption dieser Analyse geführt hat, aufgrund der es in der kommunistischen Bewegung später zu problematischen Vorstellungen über Bündnismöglichkeiten mit Teilen der Bourgeoisie auch über den antifaschistischen Kampf hinaus gekommen ist (S. 11; vgl. zu dieser Kritik auch Spanidis 2016 und Stoodt 2017). Allein schon die Rücknahme der Volksfrontlosung durch das EKKI einschließlich entsprechender Direktiven an ihre Sektionen im September 1939 spricht hier eine deutliche Sprache und zeigt die ursprünglich als begrenzt verstandene, taktische Losung der antifaschistischen Volksfront im Unterschied zur Einheitsfrontstrategie der Komintern, wie sie in ihrem Programm des VI. Weltkongresses 1928 beschlossen worden war und deren Erfolg nach der Auflösung der Komintern im Mai 1943 nicht mehr angemessen diskutiert und eingeschätzt werden konnten (Stoodt 2020).
Solchen Überlegungen zur Faschismustheorie der Komintern 1935 – 1939 entspricht das hier zugrunde gelegte Verständnis von Antifaschismus: „Nur ein Antifaschismus, der die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse als Grundlage des Faschismus bekämpft, kann mehr als nur Symptombekämpfung betreiben. Die illusionäre Vorstellung, der Faschismus sei eine der bürgerlichen Demokratie absolut entgegengesetzte Herrschaftsform, läuft auf die Verteidigung des Kapitalismus in seinen weniger autoritären Varianten hinaus und unterminiert damit letzten Endes auch den antifaschistischen Kampf.“ (Kommunistische Organisation 2018, a.a.O.)
Dies alles zur Diskussionslage vorausgeschickt – hier meine Thesenreihe zur aktuellen Lage


Thesen


1. Weltweit, in Europa und in der Bundesrepublik sind seit längerem die Rechtskräfte auf dem Vormarsch. In vielen bürgerlich-parlamentarischen Wahlen zB. stellt sich nur noch die Alternative, Liberal-Konservative oder mehr oder weniger offen auftretende faschistische Kräfte an die Macht zu wählen.

2. Auch wenn das in Deutschland derzeit noch anders zu sein scheint: wer gehofft haben sollte, die Ampelkoalition sei das „kleinere Übel“ gegenüber einer noch rechteren Regierung gewesen, wird gerade eines schlechteren belehrt. Wie schon oft gab es einen Machtwechsel von einer zur anderen Variante parlamentarischer Macht genau in der kritischen Phase eines internationalen/nationalen Umbruchs – und die Hoffnungsträger*innen von vorgestern sind nun zum soundsovielten Mal die Enttäuschung von gestern und die Bedrohung von morgen für viele. Dass nach den Erfahrungen mit SPD, GRÜNEN und FDP, die gerade derzeit in der Frage von Krieg, GEAS, Klimapolitik gemacht werden – von den völlig marginalisierten Politikfeldern Bildung, Care, demokratischer Fortschritt, ganz zu schweigen –, noch jemand Hoffnungen auf eine künftige r2g-Regierung setzte, wäre Ausdruck extrem unrealistischer Vorstellungen.

3. Auf dem Vormarsch sind auch hierzulande die Rechtskräfte, und zwar keineswegs nur in der AfD: eine unter anderem in Planungsstäben der „Münchner Sicherheitskonferenz“ seit langem vorbereitete, dann aber führend von der Sozialdemokratie im Februar 2022 unter Nutzung des russischen Überfalls auf die Ukraine blitzartig durchgesetzte Militarisierung in ungekanntem Ausmaß (Olaf Scholz, „Zeitenwende“), eine gemessen an den Notwendigkeiten lähmende Untätigkeit in der Klima-, Energie und Mobilitätsfrage, aggressive Hetze gegen Klimagerechtigkeitsaktive, Linke und Antifaschist*innen aller Couleur, der vorläufige Abschluss einer EU-Migrationspolitik, die noch mehr mörderische Konsequenzen haben wird als die bisherige – für all solche Entwicklungen steht nicht die AfD, sondern stehen alle im Bundestag und den Landesparlamenten vertretenen Parteien außer der reformistischen LINKEN, die allerdings mehr als genug mit sich selbst beschäftigt ist.

4. Diese Entwicklung ist nicht zuerst einer Mentalitätsverschiebung nach rechts zuzuschreiben, so sehr diese im langfristigen Trend deutlich erkennbar ist und die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Machtverschiebungen reflektiert. Sie ist das Ergebnis des perspektivlosen Hinausschiebens von objektiv notwendigen Entwicklungen weiterer Vergesellschaftung und gesellschaftlicher Kontrolle, an deren progressiver Lösung die herrschende politische Kraft des Landes, die Monopolbourgeoisie, kein Interesse haben kann – in der Bundesrepublik wie international. Der Sinn dieses reaktionären Megatrends imperialistischer Gesellschaften besteht letztlich darin, nach dem vorläufigen Ende der sozialistischen Systemalternative mit dem damit angeblich erreichten „Ende der Geschichte“ nun vor dem unübersteigbar scheinenden Gebirge einer bedrohlichen Fülle im Rahmen der bürgerlichen Ordnung nicht lösbarer Probleme dazustehen – und zugleich auf keinen Fall zulassen zu wollen, daß nach Lösungen jenseits der kapitalistischen Anarchie von Privateigentum, Warenproduktion, Aggression nach Außen und Reaktion nach Innen gesucht wird.

5. Zentrale Politikfelder, auf denen das zu erkennen ist, sind:
– Krieg und Frieden, Steigerung der Rüstungspolitik bei gleichzeitiger Spaltung der Friedensbewegung- Klima, Energie, Verkehr, Bauwesen
– eine angemessene Ausgestaltung des gesamten Reproduktionssektors (öffentliche Bildung, Gesundheit, Pflege, soziale Begleitung und Rehabilitation)
– die rassistische Abwehr von Migration bei gleichzeitigem Arbeitskräftemangel in den imperialistischen Zentren
– dramatisch steigende soziale Ungleichheit, wobei diese Aufzählung nicht vollständig für alle drängenden Probleme sein soll, sondern mE. für die hier diskutierte Frage massivsten sind.

Diese Problemfelder durchdringen und überlagern einander. Sie sind in unterschiedlicher Weise zeitkritisch und global bedrohlich (Klima, Krieg). Ihre Mischung und gleichzeitige, aber unterschiedlich schnell verlaufende Eskalation macht eine umfassende und tiefreichende gesellschaftliche Krise unvermeidlich. Deren Höhepunkt ist noch nicht abzusehen.
Objektiv wären Probleme wie das des Welthungers bei gleichzeitiger weltweiter Nahrungsmittelüberproduktion (zB. Ziegler 2002, Ziegler 2021) oder das der heranrollenden globalen Klimakatastrophe mit den weltweit vorhandenen Ressourcen vergleichsweise schnell lösbar. Sie sind es aber nicht im Rahmen der durch das imperialistische Weltsystem charakterisierten und kontrollierten Machtverhältnisse, die den eigentlichen Zusammenhang von Krieg, Hunger, Klimakatastrophe und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zur Not gewaltsam garantieren – zugleich immer auch im Kampf des einen Imperialismus gegen den anderen. Denn auch ein „multipolares“ imperialistisches Weltsystem trägt jederzeit die Gefahr eines eskalierenden militärischen Konflikts in sich „wie die Wolke den Regen“.
Aber werden objektiv erforderliche und mögliche Maßnahmen wie die oben erwähnten nicht sehr bald durchgesetzt, droht z.B. in der Klimafrage das Überschreiten von Kipp-Punkten und damit die irreversible Gefährdung weiter Teile der bisherigen Grundlagen menschlichen Lebens und seiner Zivilisationen (Spanidis / Schulze / Camillo / Stoodt 2019, Stoodt 2019, Stoodt 2021, IPCC 2021).
Mit anderen Worten: die Lösung dieser und anderer Fragen (z.B. der Biodiversität) ist, schärfer als zuvor, in hohem Maß zeitkritisch. Jenseits der nur noch wenige Jahre entfernte Kipp-Punkte drohen langfristig unumkehrbar Verhältnisse, wie sie sich heute nur Autor:innen dystopischer Romane vorstellen können.
Diese Aporie gilt es klar zu sehen: die notwendigen Schritte zur Verhinderung vielgestaltiger globaler Katastrophen können bei Strafe des Untergangs der in vielerlei Form und Entwicklungsniveau kapitalistischen, imperialistischen Produktionsverhältnisse und ihrer Staaten offenbar nicht oder nicht rechtzeitig gelöst werden. Damit sind wir global in einer Situation, in der „der wachsende Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen sich zwangsläufig darin äußert, dass die Produktivkräfte auch im Verhältnis zu den natürlichen Lebensbedingungen zunehmend den Charakter von Destruktivkräften annehmen, weshalb eine Verschlimmerung der ökologischen Problematik gesetzmäßiges Resultat der kapitalistischen Entwicklung ist.“ (Spanidis 2019)
Der Imperialismus als in sich widersprüchliches Weltsystem wird in dieser Lage um seine Existenz kämpfen – bis zum drohenden Untergang der menschlichen Zivilisation. Mit diesem Befund steht mittelfristig beileibe nicht nur, aber auch die Frage des Überlebens der bürgerlichen Demokratie auf der Tagesordnung. Diese Situation stellt den aktuellen Rahmen für Faschismus und Antifaschismus dar.

6. Der Zusammenhang und die gemeinsame Wurzel der genannten Politikfelder ist, wie bereits gesagt, die Produktionsweise des Kapitalismus in ihrem imperialistischen Stadium. Hier, in den Interessen der heute Herrschenden, liegt der eigentliche Grund für die letztlich das Überleben der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, in Frage stellenden Blockade zur Lösung zentraler gesellschaftlichen Fragen. Faschismus bringt zwar in verheerendem Ausmaß Hass, Verachtung, Konkurrenz, Misogynie und Homophobie, Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, Antikommunismus, Islamophobie und so weiter zum Ausdruck. Aber seine letzte Wurzel sind nicht Mentalitäten, falsches Bewusstsein, oder gar Facetten der menschlichen Natur. Faschismus ist eine Form bürgerlicher Herrschaft (R. Kühnl 1971), die zu ihren Regeln gewaltsam „weiter so“ machen will, obwohl genau das objektiv nur zu schrecklichen Kosten für Natur und die Gattung Mensch möglich ist.

7. Bisher konnte man zu Recht sagen: solange es die bürgerliche Gesellschaft und den bürgerlichen Staat in ihrer heutigen Verfasstheit gibt, gibt es auch die Möglichkeit des Faschismus, gibt es faschistische Stimmungen, Mobilisierungen und Bewegungen oder auch die Gefahr der Machtübertragung an Faschisten. Sie bringen in letzter Instanz immer die Interessen der Herrschenden zum Ausdruck und haben die Funktion, deren defensive oder offensive Interessen gegen jeden inneren und äußeren Widerstand durchzusetzen. Dafür bedienen sie sich nicht zuletzt der Formierung von gesellschaftlichem Bewusstsein in ihrem Sinn, wo nötig aber auch der offenen terroristischen Gewalt. Ob sie dazu in der Lage sind, hängt vom jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, vom Stand der antifaschistischen Bewegung ab.
Zu dieser historischen Grundfunktion kommt inzwischen jene weitere hinzu, wächst aus ihr heraus wie aus dem „fruchtbaren Schoß“ (Brecht), die der Menschheit gewaltsam den Untergang androht, sollten die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht im Rahmen der bürgerlichen „Ordnung“ bleiben.

8. „The essence of Fascism is the endeavour violently to suppress and overcome the ever-growing contradictions of capitalist society.“ – “Das Wesen des Faschismus besteht im Versuch, die ständig wachsenden Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft gewaltsam unter Kontrolle zu halten.“
Das schrieb bereits 1934 der britische Marxist indischer Herkunft und hochrangige Exponent der Komintern Rajani Palme Dutt (Palme Dutt 1934 / 1972). Auf heute und morgen übertragen: ein „Weiter so!“ nicht nur, besonders aber in den genannten Politikfeldern, lässt sich im Rahmen bürgerlicher Gesellschaften weltweit auf die Dauer nur noch gewaltsam und mit Terror von Oben absichern oder durchsetzen: eben faschistisch.

9. Faschistische Gewalt ist vielgestaltig und auf allen Ebenen möglich, ihre Übergänge zur nichtfaschistischen imperialistischen Herrschaft jederzeit fließend: Desinformation und Fake-News, Hetze und Ablenkungsmanöver, Bewusstseinsindustrie, Brot-und-Spiele-Politik, staatlich alimentierte Schlägertrupps und Mordbanden à la NSU, Polizei, Armee, Gesetzesverschärfungen, Ausnahmezustand usw. Auf all diesen Gebieten gibt es hier und heute mehr als nur Anfangstendenzen. Entsprechend der Natur des Faschismus an der Macht als „Herrschaft des Finanzkapitals selbst“ (Dimitroff 1935) sind die Übergänge zwischen bürgerlich-demokratischen und faschistischen Verhältnissen fließend, damit aber auch immer von beiden Seiten beeinflussbar: den an faschistischer Durchsetzungsmacht Interessierten und den antifaschistischen Gegenkräften. Auf der ideologischen und kommunikativen Ebene lassen sich faschistischen Gewaltformen auf zwei Wurzeln zurückführen: die herrschaftssichernde Notwendigkeit formierten Bewusstseins als Voraussetzung für Ruhe an der Heimatfront (Lloyd und Pillardi 2021) und den weitverbreiteten Irrationalismus als „adäquate Bewusstseinsform der imperialistischen Gesellschaft“ (Metscher 2010, S. 369 – 376).
Neben diesen alltagsdurchdringenden ideologischen Gewaltformen – Gewaltformen, weil sie bewusst und interessegeleitet kontrafaktisch Sachverhalte behaupten und im Massenbewusstsein durchzusetzen versuchen, seit Joseph Goebbels zielgerichtet eingesetztes Instrument faschistischer Massenbeeinflussung (Goebbels 1942) – spielen täglich und überall ökonomische und außerökonomische Gewalt eine zunehmende Rolle: vom Jobcenter bis zur „Bürgerwehr“, von Polizeigewalt bis zum drohenden Nuklearkrieg, von der Duldung und „Normalität“ patriarchaler Gewalt und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hin bis zu rassistischer Gesetzgebung und ausdrücklich NS-faschistischer Netzwerke in Polizei, Armee und Politik.

10. Wer, wie im bayerischen Landtagswahlkampf  CSU, FDP, Bayernpartei und AfD, bei ihren (noch)  parallelen Treffen in Erding vorgeführt haben, der Bevölkerung verspricht, es könne alles bleiben, wie es ist, spricht nicht laut aus, sagt aber nicht minder klar: „unser ganzer gesellschaftlicher Lebensstil – das alles können `wir´ uns leisten, weil es so in `unserem´ Interesse liegt, und ‚wir‘ keinerlei Zugeständnisse an irgendeine Forderung nach Veränderung zulassen. ‚Wir‘ wollen das so, obwohl wir wissen, dass das andere das Leben und die Gattung die Zukunft kosten wird“ – wobei die Pointe dieser unausgesprochenen Botschaft darin besteht, zu 99% von Menschen bejubelt zu werden, die von dieser Machtdemonstration der Reichen selber gar nichts haben, nicht an ihren Versprechungen teilhaben, sondern im Gegenteil am meisten unter ihrer Verwirklichung leiden.
Nach mir die Sintflut – ich habe keine Kinder!“ brachte das ehrlich, eiskalt und seelenruhig jüngst der Privatjet fliegende Millionär und Verleger Julien Backhaus fernsehöffentlich auf den Punkt (Backhaus 2023) und bekräftigte damit möglicherweise sogar ganz bewusst das Marxsche Diktum: „Après moi le déluge! ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation.“ (Marx 1867, S. 285)
Das ist faschistoid. Es kennzeichnet die Lage, daß solche im objektiven und bekannten Ergebnis mörderischen Äußerungen praktisch folgenlos bleiben, während eine bayerische Staatsanwältin für das Anbringen eines Banners der „Letzten Generation“ an einem Bayerischen Gericht drei Monate Haft ohne Bewährung für die „Täterin“ forderte.

11. Die Politik der aktuellen Regierung ist nicht nur bellizistisch, indem sie sich mit einer faschistoiden Regierung in der Ukraine verbündet, um den russischen imperialistischen Konkurrenten zu bekämpfen. Sie öffnet durch ihre Art des Umgangs mit der Klimakrise auch der sozialen Demagogie von FDP, CDU und AfD Tor und Tür, wie man in der Frage des sogenannten „Heizungsgesetzes“ deutlich sehen konnte. Ökonomischer Nutznießer davon sind die Energiekonzerne und ihre politischen Repräsentanten, die soziale Schwungmasse dafür stellen auch Teile der Bevölkerung und der Arbeiterklasse mit ihren aktuellen Sympathien für die AfD, der es eine Politik à la Baerbock, Habeck, Lindner, März und Söder wunderbar einfach macht. Mit dieser Politik drückt die Ampel-Regierung der AfD den Knüppel in die Hand, mit dem jederzeit gedroht werden und eine immer konzernfreundlichere Politik in der Breite von Medien und veröffentlichter Meinung durchgesetzt werden kann – mit dem Ergebnis, dass die extrem rechte bis faschistische AfD parlamentarische Erfolge für ihre völkische und nationalistische Politik feiert. Schon hieran kann man erkennen: „Alle gegen die AfD“ gemeinsam mit denen, die die Faschisten erst in ihre bequeme Lage bringen – das wird nicht funktionieren.

12. Gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen werden sich also je länger, desto mehr im Auseinanderdriften von objektiv notwendigen radikalen gesellschaftlichen Veränderungen und dem dagegen gerichteten reaktionären Versprechen bewegen, das im Kern lautet: „Wählt uns, dann bleibt alles, wie es immer schon war!“ – und das behauptet keineswegs nur die AfD.

13. Die AfD und ihr Aufstieg ist nur der konzentrierteste Ausdruck dieser Realitätsverweigerungs-Haltung, in deren Zusammenhang es kein Wunder ist, wie post- oder kontrafaktische „alternative Realitäten“, Verschwörungsmythen und andere Formen massiven Irrationalismus um sich greifen und gleichzeitig Demenz zur Volkskrankheit derer wird, die es sich lieber abgewöhnt haben, in Zusammenhängen zu denken.

14. In dieser Lage reicht eine Haltung, die am einmal Erreichten, z.B. den demokratischen Grundrechten, festhält, und in deren Verteidigung einen entscheidenden, zentralen Ausdruck von Antifaschismus sieht, nicht aus. Sie ist notwendig, aber nicht hinreichend. Für sich allein ist sie eher das Pendant zum „Weiter so!“ der Gegenseite.

15. Natürlich ist und bleibt es notwendig, die demokratischen Grundrechte als Mindeststandards des bürgerlichen Staats zu verteidigen. Falsch aber ist es, die Illusion zu verbreiten, sie könnten sich in der skizzierten Lage auf Dauer im Rahmen der bürgerlichen Republik, für die sie verfasst wurden, behaupten. Wer auch nur die unter ihren gesellschaftlichen Bedingungen strukturell uneinlösbaren bürgerlichen Versprechen von universaler Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit real und für alle verwirklichen will, wird das im Rahmen der heutigen bürgerlichen, also der imperialistischen Gesellschaft nicht lange können. Wer z.B. ernsthaft und praktisch im Sinn von Art. 1(1) GG für die unveräußerliche Menschenwürde aller Menschen global eintritt, wird sehr schnell auf auch gewaltsame Gegenwehr der Herrschenden zu stoßen. In deren Augen grenzt zB. Seenotrettung heute schon an Terrorismus.  

16. Antifaschismus stellt sich die Aufgabe, die Errichtung einer faschistischen Diktatur zu verhindern. Er darf sich nicht auf die gesellschaftliche Verteidigung gegen Symptome und Auswüchse faschistischer Kräfte beschränken, so unabdingbar auch das ist. Sonst wird Antifaschismus zu Feuerwehr und Krankenwagen von Bedingungen, die immer wieder neu Faschismus hervorbringen, mittelbar also sogar mitverantwortlich für das, was es eigentlich zu verhindern gilt.

17. Erforderlich ist vielmehr, daß wir uns den reaktionären Versuchen, sich auf unterschiedliche Weise den Realitäten der gesellschaftlichen Entwicklung z.B. in den oben genannten zentralen Politikfeldern zu entziehen, dadurch entgegenstellen, dass wir dem faschistischen Irrationalismus, der faschistischen Gewalt eigene positive Ziele offensiv entgegensetzen und für sie kämpfen.

18. Diese Ziele können nur in einem Prozess derjenigen gesellschaftlichen Kräfte formuliert werden, die bereit sind, sich an der Entwicklung progressiver, d.h.: ohne Rücksicht auf die Systemgrenzen die realen Grundprobleme der heutigen Menschheit zielgerichtet anpackenden, statt reaktionärer Ziele zu beteiligen und dafür alle Anstrengungen unternehmen, sich auf die vorfindlichen Realitäten der Welt von heute einzulassen, von ihnen auszugehen.
Zugleich kann ein solcher Prozess nur in größtmöglicher inhaltlicher und organisatorischer Unabhängigkeit von allen politischen Kräften stattfinden, die wie auch immer selber in die reaktionäre bis faschistische Entwicklung der Gesellschaft, in das „Weiter so!“ verwickelt sind. Antifaschismus als diskutierender und intervenierender Prozess muss von einer „Außenposition“ aus stattfinden, von der aus er in die bürgerliche, vom Faschismus bedrohte Gesellschaft hineinwirkt (Metscher 2010).

19. Zu diskutierende und Fragen und praktische Aktionen in diesem Sinn wären z.B.:
für welche gesellschaftlichen Strukturen treten wir ein, die strukturell friedensfähig sind, anstatt immer neue Kriege zu produzieren? Wie einen drohenden Atomkrieg verhindern? Wie ist es der Weltbevölkerungs-Mehrheit vielleicht gerade noch möglich, zu erzwingen, nach dem Scheitern der 1,5-Grad- wenigstens die 2,0-Grad-Grenze des Pariser Klimaschutzprotokolls einzuhalten, bevor durch das Überschreiten drohender Kippunkte die natürlichen Lebensgrundlagen der gesamten menschlichen Zivilisation zerstört werden könnten? Wie muss unsere Gesellschaft aussehen, damit der riesige gesellschaftliche Reichtum allen zugutekommt? Welche Vorstellungen gesellschaftlicher Gleichheit und Solidarität haben wir, und was muss dafür anders werden, damit sie Realität werden können? Wie können wir solidarisch mit der weltweiten Migration umgehen?

20. Der Vorschlag, faschistischen Herrschaftsformen, also einer Art weltweiten Apartheid weniger gewaltsam „gehärteter“ Wohlstandsinseln gegen die riesige Mehrheit in Elend und Machtlosigkeit existierender Menschen unsere Vorstellungen entgegenzusetzen und theoretisch wie praktisch dafür einzutreten, daß sie positiv Wirklichkeit werden, ist keineswegs neu. „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“ hieß es im Schwur von Buchenwald am 19. April 1945 – und er verband damit so kurz wie möglich die untrennbare defensive und offensive Seite seiner antifaschistischen Ziele zu einer Einheit. Wir müssen neu buchstabieren, was das heute konkret heißt.

21. Im Sinn des Schwurs von Buchenwald ist es, einen Diskussions- und Aktionsprozess mit allen, die an ihm teilnehmen wollen, zu organisieren. Sein Ziel muss es sein, gemeinsam und öffentlich zu erarbeiten, wie wir uns ein Zusammenleben vorstellen, in dem Faschismus gesellschaftlich und strukturell tatsächlich keine Chance hat.
Um es mit Brecht zu formulieren müssen wir neu lernen, nicht nur gegen die Barbarei, sondern auch gegen die sie hervorbringenden Besitzverhältnisse zu kämpfen und zugleich zu formulieren, wie wir stattdessen leben wollen. Wir brauchen neben den negativen Bestimmungen dessen, was wir am Faschismus ablehnen, die Benennung der positiven gesellschaftlichen Ziele, deren Verwirklichung Faschismus ein für allemal unmöglich machen. Ein solches Verständnis von Antifaschismus versteht sich als Teil der Bewegung gegen die Strukturen, die Faschismus immer wieder neu hervorbringen. Nachmeiner Überzeugung, nach meiner Kenntnis der gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir uns befinden, kann das nur eine revolutionäre Bewegung sein.

22. Das ist keine neue, wohl aber eine unter gewandelten Verhältnissen neu zu verstehende und praktisch anzufassende Aufgabe. Sie muss in der gegebenen Diskussionslage zunächst die falsche Vorstellung konfrontieren, als sei Faschismus etwas qualitativ grundsätzlich anderes als die bürgerliche Gesellschaft: „Nach dieser Auffassung ist der Faschismus eine neue dritte Macht neben (und über) Kapitalismus und Sozialismus… Das ist natürlich eine faschistische Behauptung, eine Kapitulation vor dem Faschismus. Der Faschismus ist eine historische Phase, in die der Kapitalismus eingetreten ist, insofern etwas neues und zugleich altes. Der Kapitalismus existiert in den faschistischen Ländern nur noch als Faschismus und der Faschismus kann nur bekämpft werden als Kapitalismus, als nacktester, frechster, erdrückendster und betrügerischster Kapitalismus. Wie will nun jemand die Wahrheit über den Faschismus sagen, gegen den er ist, wenn er nichts gegen den Kapitalismus sagen will, der ihn hervorbringt? Wie soll da seine Wahrheit praktikabel ausfallen? Die gegen den Faschismus sind, ohne gegen den Kapitalismus zu sein, die über die Barbarei jammern, die von der Barbarei kommt, gleichen Leuten, die ihren Anteil vom Kalb essen wollen, aber das Kalb soll nicht geschlachtet werden. Sie wollen das Kalb essen, aber das Blut nicht sehen. Sie sind zufriedenzustellen, wenn der Metzger die Hände wäscht, bevor er das Fleisch aufträgt. Sie sind nicht gegen die Besitzverhältnisse, welche die Barbarei erzeugen, nur gegen die Barbarei. Sie erheben ihre Stimme gegen die Barbarei und sie tun das in Ländern, in denen die gleichen Besitzverhältnisse herrschen, wo aber die Metzger noch die Hände waschen, bevor sie das Fleisch auftragen.“ (Brecht 1936)

23. Antifaschismus in diesem Sinn setzt heute den Blick auf die buchstäblich alles bedrohenden globalen Kräfteverschiebungen und katastrophalen Auswirkungen des Imperialismus voraus, und muss zugleich lokal geerdet sein. Die Entscheidung darüber, ob wir uns dabei auf dem richtigen Weg oder in einer Sackgasse befinden, fällt nicht zuerst auf der Ebene theoretischer Diskurse, sondern in der Praxis und setzen eine ebenso solidarische wie schonungslose Diskussion aller voraus, die sie mitgehen wollen und können (Stoodt 2021).


Literatur:

Backhaus 2023 Zehnsekündiges Statement von Julien Backhaus zur Frage des Klimawandels: https://fediscience.org/@rahmstorf/110309593266388250

Brecht 1936 Bertolt Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, London 1936, (https://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/brecht2.html)

Brenner 2017 Hans-Peter Brenner, Beschränkte Sichtweise. Debatte. Besteht ein Zwang zur »Neuorientierung« – kommunistischer Bündnispolitik?

Argumente und Einwände gegen Hans Christoph Stoodt, in: junge Welt, 20.2.2017 (https://www.jungewelt.de/artikel/305739.beschr%C3%A4nkte-sichtweise.html)

Dimitroff 1935 Georgi Dimitroff, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse. Bericht auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, 2. August 1935, in: Ausgewählte Werke II, Berlin/DDR 1958, S.525f

Goebbels 1942 Joseph Goebbels, Tagebucheintrag vom 29. Januar 1942, in: Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil 2, Band 3, München 1994

IPCC 2021 IPCC, Sechster Sachstandsbericht – AR6 (https://www.de-ipcc.de/250.php)

Kommunistische Organisation 2018 Programmatische Thesen der Kommunistischen Organisation, hg. Kommunistische Organisation, Berlin 2018 (https://kommunistische.org/programmatische-thesen/5-faschismus-und-antifaschismus/)

Kühnl 1971 Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus – Faschismus, Hamburg 1971

Lloyd und Pillardi 2021 Jürgen Lloyd und Freya Pillardi, Innere Geschlossenheit. Wie aktivieren Staat und Monopole die beherrschten Klassen zum Mitmachen? Über »Formierung« bzw. kapitalistische Integration in der Bundesrepublik, in: „junge Welt“, 19.8.2021 (https://www.jungewelt.de/artikel/408465.deutscher-imperialismus-inneregeschlossenheit.html)

Marx 1867 Karl Marx, Das Kapital, Band I, Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Frankfurt 1972

Metscher 2010 Thomas Metscher, Logos und Wirklichkeit. Ein Beitrag zu einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins, Frankfurt 2010

Sander 2023
Ulrich Sander, Nichts gelernt?, in: Unsere Zeit, 16.6.2023 (https://www.unsere-zeit.de/nichts-gelernt-3- 4781066/)

Schneider 2023 Ulrich Schneider, Nachdenken über antifaschistische Bündnisarbeit, in: Marxistische Blätter 2_2023, S. 26-35

Sohn 2023 Manfred Sohn, Hauptfeind im Blick halten, in: Unsere Zeit, 9.6.2023 (https://www.unsere-zeit.de/hauptfeindim-blick-halten-4780926/)

Spanidis 2017 Thanasis Spanidis, Der VII. Weltkongress der Komintern und seine Folgen. Für eine kritische Neubewertung der antifaschistischen Politik der Komintern (https://kommunistische.org/diskussion/der-vii-weltkongress-derkomintern-und-seine-folgen/)

Spanidis / Schulze / Camillo / Stoodt 2019 Thanasis Spanidis, Jakob Schulze, Ernesto Camillo und Hans Christoph Stoodt: Kapitalismus, ökologische Zerstörung und kommunistische Strategie (https://kommunistische.org/diskussionstribueneklima/kapitalismus-oekologische-zerstoerung-und-kommunistische-strategie/)

Spanidis 2019 Thanasis Spanidis, Ist es möglich, innerhalb der Grenzen des Kapitalismus die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit zu bewahren? (https://kommunistische.org/diskussionstribuene-klima/ist-es-moeglich-innerhalbdes-kapitalismus-die-natuerlichen-lebensgrundlagen-der-menschheit-zu-erhalten/)

Stoodt 2016 Hans Christoph Stoodt, Krach in der imperialistischen Pyramide, in: Unsere Zeit, 9.11.2016 (https://www.unsere-zeit.de/krach-in-der-imperialistischen-pyramide-45949/). Die Redaktion der UZ hielt es seinerzeit für geboten, dem Artikel eine distanzierende Bemerkung voranzuschicken, an der schon damals der Dissens zum Begriff der „imperialistischen Pyramide“ zur Einschätzung Russlands als imperialistischen Staats sichtbar wurde.

Stoodt 2017 Hans Christoph Stoodt, Was ist ein breites Bündnis? Zur grundlegenden Frage im antifaschistischen und antimilitaristischen Kampf, Die Wurfbude, Januar 2017 (https://wurfbude.wordpress.com/2017/01/11/was-istein-breites-buendnis/) /verkürzte Version in „junge Welt“, 31.1.2017 (https://www.jungewelt.de/artikel/304536.was-ist-ein-breites-b%C3%BCndnis.html)

Stoodt 2019 Hans Christoph Stoodt, Ökonomie der Zeit. Kommunistische Strategie im Horizont der kapitalistischen Klimakatastrophe (https://kommunistische.org/diskussionstribuene-klima/oekonomie-der-zeitkommunistische-strategie-im-horizont-der-kapitalistischen-klimakatastrophe/)

Stoodt 2020 Hans Christoph Stoodt, „Diese Losung wird zurückgenommen“, in: offen-siv. Zeitschrift für Sozialismus und Frieden, 4-2020, S. 35 – 39 (https://offen-siv.net/wp-content/uploads/2020/04/2020-04.pdf)

Stoodt 2021 Hans Christoph Stoodt, Auf der Suche nach der Furt. Diskussionsbeitrag zu Payal Parekh & Carola Rackete, Wie kann die Klimabewegung ihren Kampf eskalieren, um die Machtverhältnisse zu verändern? (https://wurfbude.wordpress.com/2021/10/18/auf-der-suche-nach-der-furt/)

Stoodt 2022
Hans Christoph Stoodt, Aktuelle Dissense in der marxistischen Imperialismustheorie. Das Beispiel des Ukrainekriegs (https://wurfbude.wordpress.com/2022/07/04/aktuelle-dissense-in-der-marxistischenimperialismustheorie-das-beispiel-des-ukrainekriegs/) = Beitrag zur Tagung der Marx-Engels-Stiftung „Frieden gebieten, wo die Herrschenden Krieg schreien“, Frankfurt am Main, 3.7.2022 (https://www.marx-engelsstiftung.de/veranstaltungen/eventdetail/147/-/frieden-gebieten-wo-die-herrschenden-krieg-schreien)

Willms 2023
Thomas Willms, Diffamierend, in: Unsere Zeit, 23.6.2023 (https://www.unsere-zeit.de/diffamierend-4781285/)

Ziegler 2002
Jean Ziegler, Wie kommt der Hunger in die Welt? Ein Gespräch mit meinem Sohn, Bielefeld, 3. Auflage, 2002

Ziegler 2021
Jean Ziegler, Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin, deutsch München 2021

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Von Unschärferelationen und Handlungsspielräumen –  Zu Polizei, Faschismus und Antifaschismus am Beispiel einer Frankfurter Ausstellung des „Studienkreises Deutscher Widerstand 1933 – 1945“

Am 11. Oktober 1967 öffnete einmal mehr die Frankfurter Buchmesse ihre Pforten. Sie ging aus zwei Gründen in die Geschichte ein: zum einen stürmten SDS-Student:innen mit dem Slogan „Klaut die Bücher dieser Viecher!“ Stände des Westberliner Springer-Verlags. Zum anderen gab es einen Polizeieinsatz gegen den Stand der DDR, der damals selbstverständlich unter dem Label „Ostzone“ aufzutreten hatte.

Dieser zweite Polizeieinsatz der Messe galt einem Buch: „Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik. Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Armee, Justiz, Wissenschaft“,[1] maßgeblich erarbeitet von Albert Norden. Es listete über 900 führende Exponent:innen der BRD mitsamt ihrer Nazi-Vergangenheit auf.

Norden stammte aus einer jüdischen Familie, war seit 1921 Mitglied der KPD, mehrfach inhaftierter Journalist während der Weimarer Republik, nach 1933 emigriert und schließlich in den USA in Sicherheit, wo er am „Braunbuch“ gegen den Reichstagsbrandprozess mitarbeitete. Nach der Rückkehr aus den USA erfuhr Norden, daß sein Vater 1943 in Theresienstadt ermordet worden war. In der DDR arbeitete er als Historiker, Publizist und hochrangiger Politiker.

Frankfurter Polizei war es, die den Stand der „Ostzone“ räumte und auf richterliche Anordnung alle Exemplare des „Braunbuchs“ einzog.[2] Später war das Buch sogar verboten[3].

Warum war das so? Was hätten interessierte Leserinnen und Leser dort entdecken können,  was sie nach dem polizeilich durchgesetzten Willen der Herrschenden in der BRD nicht wissen sollten?

Zum Beispiel dies:
Theodor Maunz, einer der „Väter und Mütter des Grundgesetzes“, Teilnehmer des jüngst von Bundespräsident Steinmeier so hochgelobten Verfassungskonvents auf dem Herrenchiemsee in Bayern, von 1952 – 1957 Professor für Politik und Öffentliches Recht in München, 1957 – 1964  Kultusminister dieses Bundeslandes (CSU) – und dann aufgrund von Veröffentlichungen aus der DDR zum Rücktritt gezwungen:
er hatte als Jurist und Ordentlicher Professor des Verwaltungsrechts schon 1935 über die Aufgaben der Polizei im Nazistaat geschrieben: „Die Beschränkung auf die Gefahrenabwehr wird allmählich gesprengt werden durch die Erstreckung des polizeilichen Aufgabenkreises auf all die Eingliederung eines einzelnen in eine Gemeinschaft durch Zwang erforderlichen Handlungen“ (Braunbuch, a.a.O., S. 318), in seinem Werk „Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts“ 1934 hatte er konstatiert: „Nicht der Staat setzt die Gesamtheit des Rechtes, sondern die völkische Lebensordnung wächst aus Blut und Boden hervor“ (Braunbuch, S. 329), und 1937 in seinem Handbuch „“Verwaltung“ den Willen des Führers zur obersten Rechtsnorm erklärt: „Der Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung geht aber weiterhin von einem völlig neuen Gesetzesbegriff aus. Gesetz ist geformter Plan des Führers und damit Ausdruck der völkischen Lebensordnung. Der geformte Plan des Führers ist oberstes Rechtsgebot“ (Braunbuch, S. 329, vgl. S. 353).
Nach seinem durch die Veröffentlichung dieser und ähnlicher Zitate seitens der DDR erzwungenen Rücktritt vom Münchner Kultus-Ministeramt wurde Maunz eben wieder Professor für Verfassungsrecht in München. Zu seinen Schülern zählten Edmund Stoiber und Roman Herzog. Maunz ist es zu „verdanken“, die argumentative Grundlage dafür gelegt zu haben, daß der Art. 139 GG (Übernahme der antifaschistischen Rechtsbestimmungen der Potsdamer Konferenz in das Grundgesetz) später von seinem Musterschüler Herzog für „obsolet“ erklärt wurde – gleichwohl aber nicht aus dem GG gestrichen: man brauchte ihn noch, als die BRD 1973 zur UN zugelassen wurde und damals als Beweis der Läuterung von faschistischen Resten auf diesen Artikel verwiesen werden konnte[4]. Dies alles geschah in jenem offiziösen Grundgesetzkommentar, der bis 2021 offiziell „Dürig / Herzog / Maunz“ hieß[5] und seit Jahrzehnten Standardwerk ist.


Die „Obsolet-Erklärung“ des Art. 139 GG durch Roman Herzog geschah übrigens ausgerechnet mit Hinweis auf Art 1 GG. Vielleicht sollte damit gesagt werden: jedem Menschen steht aufgrund seiner Menschenwürde auch das Recht zu, in die Irre zu gehen und danach wieder umzukehren. Das ist ein schöner Gedanke, der jedoch auf Maunz nicht anwendbar ist. Denn nach seinem Tod stellte sich heraus, daß der Herr Professor seit vielen Jahren und fast bis zum Schluss seines Lebens 1993 unter einem Pseudonym Leitartikel für die Deutsche Nationalzeitung verfasst[6] sowie Rechtsgutachten unter anderem für die faschistische „Deutsche Volksunion“ erarbeitet hatte[7].

Es ist nachvollziehbar, daß die Polizei eines Staats, in dem es bis heute nie einen wirklichen, nämlich strukturellen Bruch mit den gesellschaftlichen Grundlagen der faschistischen Vergangenheit gegeben hat, seinerzeit keinerlei Interesse hatte, durch Veröffentlichungen wie die des „Braunbuch“ der DDR 1965 an die buchstäblich Hunderte von Täter:innen des Nazifaschismus erinnert zu werden – Täter:innen, die alle relevanten Teile dieses Staats im Sinn einer „Fortführung der bisherigen Tätigkeit“[8] „wiederaufgebaut“ hatten, an die Hunderttausende Leichen im gesellschaftlichen Keller, an die, die zur Zeit der Buchmesse 1967 schon wieder jahrelang im diesmal bundesdeutschen Knast saßen, weil sie KPD-Mitglieder waren, eines Staats, in dem – der zur Zeit der Abfassung dieser Zeilen gerade aktuelle Fall Aiwanger zeigt es erneut – Antisemitismus nie wirklich verschwunden oder konsequent bekämpft worden war.

Eigentlich wäre es ja schön, wenn mit dieser Tradition und bis heute wirkenden Realität nun endlich gebrochen würde. In Zusammenarbeit mit dem Studienkreis Deutscher Widerstand 1933 – 1945 hat das Polizeipräsidium Frankfurt, gefördert von staatlich hessischen Stellen nämlich dem Innenministerium und dem „Hessischen Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus“ (HKE) eine Ausstellung erstellt, die seit dem 20.7.2023 im Frankfurter Polizeipräsidium zu sehen ist.[9]

Diese Kooperation, das inhaltliche Konzept und der Titel dieser Ausstellung waren mindestens seit März 2023 Gegenstand von Konflikten innerhalb des Studienkreises, ebenso wie die neuen inhaltlichen Schwerpunkte, die sich der Studienkreis mit dieser Ausstellung als Auftakt geben will. Dazu unten mehr.

Nun ist die Frankfurter Polizei aktuell insofern ein besonderer Fall, als sie nach den rassistischen und faschistischen Vorgängen im 1. Frankfurter Polizeirevier bundesweit in den Schlagzeilen war. Es muss hier nicht erneut an die nicht nur auf Frankfurt beschränkte Tätigkeit von Nazi-Chatgruppen unter Polizeibeamt:innen hingewiesen werden, auf die unter dem Label „NSU 2.0“ Bedrohungen gegen eine Vielzahl von Menschen, nicht zuletzt Linken und Antifaschist:innen, zurückgeht, und die keineswegs als aufgeklärt gelten kann[10].

Zudem spielte und spielt Hessen als Wirkungsfeld des NSU, des faschistischen Mörders von Hanau und seines aktuellen Nachahmungstäters[11] eine prominente Rolle für den heutigen Faschismus im Polizei- und VS-Umfeld: letztlich ungeklärt bleibt die Rolle des VS-Agenten Andreas Temme beim Kasseler NSU-Mord an Halit Yozgat im April 2006, weil die Aufdeckung seiner Rolle dem „Staatswohl“ des Landes Hessen schaden könnte[12]; privaten Ermittlungen von Angehörigen und Freund:innen der Opfer bleiben entscheidende offene Frage zur Mordserie in Hanau 2020 überlassen[13]; eine mögliche Fortsetzung dieser Tat Ende Juni 2023 wird von Polizei und Innenminister wochenlang vertuscht; und selbst im Fall der Ermordung des CDU-Regierungspräsidenten Walter Lübcke bleiben bis heute Unklarheiten[14].

Unvergessen bleibt auch die Tatsache, daß schon 2005 hessische Polizeibeamte, die den Personenschutz des damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Michel Friedman, stellten, sich gegenseitig angeblich „witzig“ gemeinte Führer-Belobigungs-Urkunden und Bilder faschistischen Inhalts zusandten – eine Vorläufer-Nazi-Chatgruppe schon damals. Sie wurden ohne großen öffentlichen Skandal von ihrer Aufgabe entbunden und andernorts im Polizeidienst verwendet, lediglich einer vom Dienst suspendiert – auch damals spielten das Frankfurter Polizeipräsidium und das Innenministerium unter Volker Bouffier eine vertuschende Rolle, denn erst 2010 wurden die Vorgänge öffentlich in Gänze bekannt.[15]

In einem solchen Umfeld leidet das Image der Polizei natürlich. Da ist es anscheinend eine gute Idee, sich öffentlich an die Aufarbeitung Jahrzehnte zurückliegender Verbrechen in den eigenen Reihen zu erinnern, indem man zeigt, daß es dort nicht nur faschistische Mordgehilfen und „ganz normale Männer“ gab, sondern auch weiße Raben.

Für ein Unternehmen in solch offenkundig selbstentlastender Absicht war es 2021 ein logischer Schritt des ehemaligen Polizeipräsidenten Bereswil, sich vor dessen Realisierung der Neutralität oder des Wohlwollens möglicher Kritiker:innen zu versichern, in diesem Fall des Studienkreis Deutscher Widerstand 1933 – 1945, von dem man früher hätte annehmen dürfen, daß er eine solche Anfrage mit gehöriger Skepsis zur Kenntnis genommen und die jetzt zur Diskussion stehende Ausstellung nicht kritisch unkommentiert lassen würde, geschweige denn sie verantwortet hätte.
Es kam anders. Deswegen gab es massive Kritik durch die AG Frankfurter Geschichte(n)[16] sowie einen Verriss der Ausstellung durch Peer Heinelt in „konkret“[17].

Heinelt zeigt am Beispiel eines der in der Ausstellung Geehrten, wie wenig diese in der Regel als Gegner des Naziregimes gelten können und verweist auf das der Ausstellung zugrundeliegende fragwürdige Konstrukt einer „allgegenwärtigen Ambivalenz“ der Möglichkeit des Widerstands, „einer zeitweiligen oder partiellen Regime-Bejahung“, die angeblich „die Regel“ für Widerstandshandlungen dargestellt haben soll, so, als ob es gar keinen entschlossenen Widerstand gegen den faschistischen Staat gegeben hätte, der von solchen Ambivalenzen frei gewesen ist.

Zudem problematisieren die AG Frankfurter Geschichte(n) und Heinelt die finanziellen Quellen der Ausstellung auch aus den Etats des HKE  und des Hessischen Innenministeriums, staatlicher Institutionen also, bei deren Interesse an einer solchen Ausstellung davon ausgegangen werden muss, daß sie in ihrem Sinn mit der Absicht von anti-antifaschistischer Einflussnahme verbunden ist.

Denn eine staatliche Institution, die sich schon von ihrem Namen her die Aufgabe stellt, Kompetenz und Informationen „gegen Extremismus“ zu vermitteln, kann niemals an Antifaschismus interessiert sein, sondern hat die programmatische und selbstverständlich politisch interessierte Aufgabe, Faschist:innen und Antifaschist:innen auf dieselbe staatlich zu bekämpfende Stufe eines angeblich beide verbindenden „Extremismus“ zu stellen.

Stimmen nun diese Bedenken, von denen man von vornherein ausgehen musste, mit dem Ergebnis dieser Ausstellung überein?

Zusätzlich zu den von Peer Heinelt vorgetragenen Kritikpunkten gibt es durchaus noch einiges:

Machen wir ein Gedankenexperiment. Stellen wir uns einen Moment lang vor, wir hätten keine Ahnung, was der deutsche Faschismus gewesen sei, und läsen nun als Erstinformation zu dieser Frage das Grußwort des Polizeipräsidenten Müller zur Ausstellung in deren Katalog (S. 4f). Dann wüssten wir: der „Nationalsozialismus“ richtete sich gegen „oppositionelle und andere stigmatisierte Gruppen“, äußerte sich in Kriegsverbrechen und im Völkermord an Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti. Weshalb es damals Oppositionelle gab und wer das war – keine Ahnung. Der Apparat staatlichen Unrechts damals, zu dem seltsamerweise auch die Polizei gehörte, gehörte einem „rassistischen, antisemitischen und totalitären System“ an. Nur wenige in der Polizei hielten dem Stand, gibt der Polizeipräsident zu – ihre Haltungen seien Zivilcourage und humane, demokratische Werte gewesen und damit Inspiration für heutige Polizistinnen und Polizisten.

Kein Wort von Widerstand, Kampf, Solidarität, Mut und Opfern, Antifaschismus. Deutscher Faschismus war nach propagandistischer Behauptung der Nazis und deren kritikloser Wiederholung durch den Polizeipräsidenten und dem Titel der Ausstellung, „Nationalsozialismus“, er war extremistisch und totalitär, rassistisch, kriegsverbrecherisch und antisemitisch. Es gab zwar eine nicht näher benannte und erklärte Opposition gegen ihn, auch in der Polizei, wenn auch nicht viel. Der Polizeipräsident dankt für die dies alles darlegende Ausstellung dem „Studienkreis Deutscher Widerstand 1933 – 1945“, und wer es liest und einen Moment lang damit experimentiert, das sei alles, was man über den deutschen Faschismus wisse, fragt sich: woher kommt hier das Wort „Widerstand“?

Blättern wir eine Seite weiter: nun erklärt uns Stefan Querl M.A., Leiter des „Geschichtsortes Villa ten Hompel, Polizeihistorische Erinnerungs- und Forschungsstätte“ in Münster, daß dies alles mit „links und rechts“ gar nichts zu tun habe. Zunächst nimmt er Norbert Wollheim für dessen leider sehr wahren Satz: „Wir sind gerettet, aber nicht befreit“ in Anspruch, um sofort im nächsten Satz gegen den Begriff „Widerstand“ vom Leder zu ziehen. Die Verwendung dieses Begriffs habe bisher allzu oft, stellt er klar, nur der Selbstentlastung gedient, um von der „Volkskontinuität“ der „Volksgemeinschaft“ abzulenken – womit Querl ebenfalls einen zentralen Begriff der Nazipropaganda verdinglichend und unkritisch-affirmativ verwendet, als habe es je wirklich eine „Volksgemeinschaft“ gegeben, wie es Goebbels und Konsorten behaupteten[18]. Wenn passend dazu in den Texten der Ausstellung grundsätzlich von „Nationalsozialismus“ anstatt von deutschem Faschismus die Rede ist, wird auch damit affirmativ eine Terminologie verwendet, die zB. von Goebbels explizit und strategisch als faschistische Propaganda gegen Marxismus und Arbeiterbewegung eingesetzt wurde[19].
Von dieser Warte aus ist es wenig erstaunlich, daß Querl nicht nur mit tiefer Skepsis auf „Widerstand“ im von ihm als Selbstentlastungsnarrativ etikettierten Sinn blickt, sondern diejenigen, die faktisch am heftigsten und organisiert Widerstand gegen den Nazifaschismus geleistet haben: Sozialist:innen, Kommunist:innen, Gewerkschafter:innen leichter Hand abkanzelt: „Politisch ist für mich das Gegenteil von rechts nicht zwangsläufig links“ (S. 7).
Wer in den letzten Jahren Wahrnehmungsfähigkeit und Verstand nicht völlig ausgeschaltet hat, weiß, von welcher Seite ständig behauptet wird, „rechts“ und „links“ seien überholte Begriffe. Er selbst, fügt Querl hinzu, sei „ein Mensch in der Mitte“, weshalb er immerhin doch schon auch „Nein zu gewissen Entwicklungen“ sagen wolle. Man ahnt, was er meint, siehe oben zu den wenigen aktuellen Beispielen von Nazi-Machenschaften in der Polizei; man fragt sich aber, was sein Vorschlag angesichts dessen ist?
Er lautet: „Differenzierung, und zwar: „zwischen den vielen Vollstreckern ‚damals‘ auch die ‚wenigen Verweigerer‘ zu suchen und deren Motive und Mentalitäten zu ergründen“, und dies auch in praktischer Absicht für heutige Polizei, Stichwort „cop culture“, was angesichts der obigen unvollständigen Aufzählung hier interessierender polizeilicher Vorgänge in den letzten Jahren einfach nur noch Verharmlosung ist (S. 6).
Im Rahmen welcher den Leser:innen und Besucher:innen sinnvollerweise zur Kenntnis zu gebenden Gesamtinterpretation des deutschen Faschismus, der Frankfurter Polizei und ihrer Vorgeschichte vor 1933 das geschehen soll, in welchem Zusammenhang also „Motive und Mentalitäten“ so zu verorten sind, daß sie auch heute noch verständlich sind, bleibt nebulös und wird auch im folgenden Kurztext „Ein Instrument des Unrechtsstaats“ (S. 8f) nicht erläutert, für den gleich in den ersten beiden Sätzen der Nazifaschismus 1933 vom Himmel gefallen zu sein scheint: „Die Polizei war ein zentrales Element des nationalsozialistischen Staates von 1933 – 1945. Sie war bereits im Frühjahr 1933 gemeinsam mit paramilitärischen Einheiten der NSDAP an der Zerschlagung der demokratischen Republik beteiligt“.  Wie kam es von der demokratischen Republik zum nationalsozialistischen Staat? Wer war dafür, wer dagegen? Wie spielte sich die Auseinandersetzung um diese Frage ab? Auf welcher Seite stand damals die Frankfurter Polizei und warum? Man erfährt es nicht. Offen bleibt: wie verhielt sich denn die Frankfurter Polizei vor 1933 gegenüber Antifaschist:innen? Wie viele Beamte waren vor und nach 1933 in der NSDAP und der SA, verglichen mit dem entsprechenden Prozentsatz in der Bevölkerung? Gab es auch in Frankfurt ab März 1933 gemeinsame Patrouillengänge der Polizei mit der SA (vgl. Foto aus Berlin, S. 13)? War das nicht Thema der Recherche? Warum wird das nicht dargestellt, um die wenigen schon damals Widerstand Leistenden gebührend zu ehren?

Dankenswerterweise wechseln sich aber dann auf den folgenden Seiten des Katalogs Texte miteinander ab, in denen die gesellschaftlichen Zusammenhänge anklingen, auf deren Hintergrund das Handeln einzelner Angehöriger der Frankfurter Polizei eingeordnet werden kann. Auf diesen Seiten wird schnell sichtbar, wie leicht die ideologische Deckschicht der Ausstellung von den Recherche-Ergebnissen im Einzelnen abgehoben werden kann: auf einmal ist immer wieder von den Arbeiterparteien SPD und KPD die Rede und man kann sich des (zutreffenden) Eindrucks auch hier nicht erwehren, dass die Frankfurter Polizei in erster Linie mit der organisierten Arbeiterbewegung den eigentlichen Feind des Nazifaschismus vor sich hatte.

Dennoch bleibt der von Peer Heinelt deutlich gemachte Eindruck vorherrschend: zum einen werden am Beispiel der zehn vorgestellten Personen zeitlose Tugenden dargestellt, die sowohl, Querl würde sagen „damals“ wie heute gelten sollen. Für Querl ist, beiläufig führt er es vor, „Treue“ ein solcher auch heute gültiger Begriff („Insbesondere in unserer Bildungsarbeit … mit jungen Anwärterinnen und Anwärtern, aber auch treu den Dienst tuenden Menschen z.B. in der beruflichen Mitte des Lebens …“ S. 6).
Das passt leider fatal zum Einladungsschreiben des ehemaligen Mitglieds im Polizeibataillons 306 und späteren Frankfurter Polizeikommissars Kuhr aus dem Jahr 1957 (!), an seine ehemaligen Kameraden: „Der Geist des ehemaligen Polizeibataillons 306 hat sich trotz vieler Anfeindungen befruchtend auf unsere geliebte Frankfurter Polizei ausgewirkt. Einsatzbereitschaft, Kameradschaft und Treue aus Liebe zum Beruf haben die ehemaligen 306er in Zeiten Deutschlands tiefster Erniedrigung zu einer starken Säule der demokratischen Hüter der Ordnung werden lassen.“ (S. 70).

Zu Wolfgang Kuhr als zeitweiligem Kommandierenden des Polizeibataillons 306:
Vom 21. bis 28. September 1941 wurde die 2. Kompanie und die Reiterabteilung des Bataillons eingesetzt, um 6.000 sowjetische Kriegsgefangene des Stammlagers 307 in Husinka zu erschießen. Im November 1941 folgten weitere 780 Kriegsgefangene aus dem Stammlager 325 in Zamosch. Am 10. Februar 1942 startete das Bataillon eine „Vergeltungsaktion Sommer“ an der polnischen Zivilbevölkerung des Gebietes um Lubartów, nachdem ein deutscher Polizist mit Namen Sommer getötet aufgefunden worden war. Dabei wurde unter Führung des Oberleutnants Johann Josef Kuhr eine große Zahl von Männern und Frauen, festgenommen, angeblich „verhört“ und „an Ort und Stelle erschossen“. Die Zahl der Opfer schwankt von „Dutzende“ über weit über 30 bis hin zu allein in nur einem der Fälle „etwa 100 Personen … die aus dem Dorf in den Wald getrieben wurden“, um erschossen zu werden. Am 19. Februar 1942 wurde das Bataillon an die Front bei Leningrad verlegt und unter der Kampfgruppe Jeckeln eingesetzt. Dabei war das Bataillon am Kampf gegen angebliche Partisanen eingesetzt. 33.000 Menschen fielen dem Einsatz der Polizei-Regimenter 2, 10, 11, 13, 14 und 15, zu dem auch das Polizei-Bataillon 306 gehörte, zum Opfer.“ (Quelle).

In der Einladung des faschistischen Massenmörders und Frankfurter Polizeikommissars Kuhr an seine „lieben Kameraden vom Polizeibataillon 306“ aus dem Jahr 1957 sind die zeitlos-dekontextualisierten Tugenden „Treue“ und „Liebe zum Beruf“ die Brücke, die die Angehörigen des Polizeibataillons 306 umstandslos von den Massenerschießungen in osteuropäischen Wäldern durch die Zeiten von „Deutschlands tiefster Erniedrigung“ (zeitgenössische Sprachregelung 1945ff: „Zusammenbruch“) zu polizeilichen „Hütern der Demokratie“ hat gelangen lassen. Treue und entsprechende Werte kann man eben, Hubert Aiwanger würde sagen, „so oder so interpretieren“ – das lernt man beiläufig im Katalog dieser Ausstellung. Mit einer konkreten politischen Intention, etwa antifaschistischem Widerstand, haben solche „Werte“nicht zwingend etwas zu tun. Wenn das gezeigt werden sollte, dann ist es gelungen.

Peer Heinelt hat darüber hinaus am Beispiel des SA-, NSDAP- und Gestapo-Mitglieds sowie Frankfurter Polizisten E. Schmidt vorgeführt, der in der Ausstellung ebenfalls als Beispiel für das Nutzen von Handlungsspielräumen dargestellt wird: der Widerstand gegen die Nazidiktatur in den Reihen der Frankfurter Polizei war trotz rühmlicher Ausnahmen schwach und widersprüchlich.

Aus dieser polizeilicherseits historisch erst einmal selbstkritisch zu konstatierenden Not macht die Ausstellung aber sogleich eine Tugend – die des „Handlungsspielraums“: „Die in der Ausstellung biografisch vorgestellten Polizeibeamten haben in unterschiedlicher Weise Spielräume genutzt, um beispielsweise Verfolgte zu schützen oder auch im Kreis des zivilen Widerstands hinter dem 20. Juli (Leuschner-Kreis) zu wirken. Die meisten waren dabei zugleich weiter im alltäglichen Polizeidienst Teil des Terrorapparats“ heißt es in einer Positionierung des Studienkreises zur öffentlicher Kritik Ende August 2023.[20]

Das war offenbar so. Aber wie ist es zu bewerten?

Die AG Frankfurter Geschichte(n) hat zum Zustandekommen, dem politischen Hintergrund der Ausstellung sowie ihrer konkreten Vorbereitung im Rahmen des Studienkreises detailliert informiert und Kritik daran geübt. Der ursprünglich geschichtsrevisionistische Titel der Ausstellung wurde durch die „Handlungsspielräume“ betonende Positionierung nachträglich geändert – nach interner Kritik.

Vor allem aber: die Ausstellung soll nach dem Willen der Mehrheit im Vorstand des Studienkreises offenbar Startereignis einer inhaltlichen Neupositionierung werden, wie im Zusammenhang einer Videokonferenz kurz vor der Ausstellungseröffnung intern erklärt wurde: „In dieser Konferenz wurde deutlich, dass es Ausstellungsmacher:innen, Geschäftsführung und Teilen des Vorstands (ein anderer Teil ist aus eben diesen Gründen zurückgetreten) um etwas Grundsätzlicheres geht, um „… eine Veränderung der Schwerpunkte und der Perspektive des Studienkreises“ (Zitat). Nach der „Täter-Organisation“, also der Polizei, müsse sich mit den Leerstellen des „linken Widerstands“ beschäftigt werden. Zitat: „…viele Überlebende…, die das Problem der Überlebensschuld haben, und die genau wissen, dass ihr Überleben nur zustande kam, weil sie sich eben auch in irgendeiner Weise so verhalten haben, dass … jemand anderes zu Tode gekommen ist.“ Und weiter: dass „der Widerstand ein grundsätzlich wichtiges, aber hilfloses Unterfangen (ist)“.

Es gibt sie also doch, die Linke und ihren Widerstand, wenn auch nur in Anführungszeichen. Allerdings mit Leerstellen, deren man sich jetzt einmal annehmen möchte, weil das ja sonst niemand tut.
Im Übrigen ist Widerstand dieser Ansicht nach wichtig, aber hilflos. Es bleiben eben nur? Richtig: Handlungsspielräume, irgendetwas zwischen Mitmachen, Wegschauen, punktueller Verweigerung und vereinzeltem Widerstand, der aber im Ergebnis „hilflos“ ist.
Wer spricht hier über wen?

Die Häftlinge der Kampfgruppe Auschwitz, im KZ Dachau, im KZ Sobibór, im KZ Buchenwald, die Interbrigadisten in Spanien 1936 – 1938, die Überläufer zur Roten Armee und zu Partisaneneinheiten und an vielen anderen Orten hatten in der Tat sehr unterschiedliche Erfolge in ihrem Widerstand.
Aber würden die Ausstellungsverantwortlichen des Studienkreises es wagen, ihnen die skizzierten ideologischen Voraussetzungen und Absichten dieser Ausstellung ins Gesicht zu sagen? Wobei die Buchenwaldhäftlinge sicher sehr erstaunt wären, zu erfahren, daß das Konzentrationslager nicht durch einen bewaffneten Aufstand des Internationalen Lagerkomitees, koordiniert mit der heranrückenden US-Armee am 11.4.1945 befreit wurde, sondern „durch die Rote Armee“ (S. 46) – ein schwer zu verstehender sachlicher Fehler, den offenbar auch die Lektoren nicht bemerkten.

Die Frankfurter Ausstellung steht nicht allein.

Sie ist Teil einer geschichtspolitischen Wende in der Bewertung von Faschismus und Antifaschismus, und will es ja auch ausdrücklich sein, siehe oben. Ein weiterer Beleg dafür ist jener durch die Presse gegangene Versuch von Wuppertaler Geschichtsstudierenden, die sich in ähnlicher Weise des Barmener KZs Kemna annahmen: „Die Einteilung in Täter und Opfer versuchen sie jedoch zu vermeiden. Denn die Grenzen seien schwammig. ‚Natürlich hat niemand dieses Leid verdient‘ sagt Studentin Dana Thiele. Doch wurden auch Tätern zu Opfern und umgekehrt. ‚Rund achtzig Prozent der Häftlinge waren Kommunisten und damit auch Gegner der Weimarer Republik, also der Demokratie‘ führt Ulrike Schrader [Historikerin, Mentorin der Wuppertaler Studierenden] aus. Eine weiße Weste habe deshalb keiner, man wolle niemandem zum Helden machen oder eine Vorbildfunktion geben, die er nicht hat.“[21]

Was im Frankfurter Polizeipräsidium „Handlungsspielräume“ heißt, heißt in der Wuppertaler Ausstellung „schwammige Grenzen“. Mit Kommunist:innen und anderen Menschen mit dezidiert linkem, antifaschistischem Profil wollen beide nichts zu tun haben, denn das sind Täter-Opfer- Extremist:innen – sagen ja auch das HKE und Ulrike Schrader. Will man sich aber dann nicht konsequent auf die Seite derjenigen stellen, die seinerzeit den „Kampf gegen den Marxismus“ zu ihrem ersten Ziel erklärt haben[22], hat man halt irgendwo in der „Mitte“ (Querl) seinen und fühlt sich, macht sich „hilflos“.

Für den „Studienkreis Deutscher Widerstand 1933 – 1945“ war bisher ein antifaschistisches Selbstverständnis evident. Das soll nun offenbar beendet werden. Antifaschismus verpflichtet sich zum Handeln gegen die gesellschaftlichen Grundlagen des Faschismus, verlangt die Aufhebung des Kapitalismus und eine andere Gesellschaft – eine Welt, in der Faschismus undenkbar und sinnlos wäre: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“[23]

Wenn man das heute wirklich will, wird man vom Hessischen Innenministerium und dem HKE nicht gefördert, sondern bekämpft. Wenn aber die bisherige antifaschistische Orientierung des Studienkreises nun im Rahmen einer neuen Zielsetzung über Bord geworfen werden soll, ist die Entsorgung eines historisch-materialistischen Faschismusbegriffs unentbehrlich. Die Ausstellung „Handlungsspielräume“ ist ein großer Schritt in dieser Richtung.

Eigentlich ist das aber nicht ganz so neu: „Wir kehren langsam zur Natur zurück“ (Kurt Tucholsky).[24]


[1] Herausgeber: Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, Dokumentationszentrum der staatlichen Archivverwaltung der DDR, Berlin/DDR 1965

[2] https://www.unsere-zeit.de/frankfurter-buchmesse-und-kalter-krieg-50623/
https://www.boersenblatt.net/archiv/1013425.html

[3] http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Deutschland/ausw-amt2.html; https://taz.de/Seit-Jahren-bekannt/!1684258/

[4] https://akj.rewi.hu-berlin.de/zeitung/05-1/pdf/139.pdf

[5] https://www.konkret-magazin.de/aktuell/625-der-jasager

[6] Hans Herbert von Arnim: Die Deutschlandakte. Kapitel X, Nr. 2, Staatsrechtslehre: Nicht ohne faschistische U-Boote, München, 2009, S. 235

[7] Michael Stolleis: Theodor Maunz – ein Staatsrechtslehrerleben, in: Kritische Justiz, 1993, S. 395.

[8] Daß „die alte Arbeit im gleichen Sinn fortgesetzt“ werden solle – nämlich im Kern „Verteidigung gegen den Kommunismus“ – gehörte wortwörtlich zu den Grundlagen der „Organisation Gehlen“, aus der später der Bundesnachrichtendienst hervorging. Das Zitat stammt von Gehlen selbst (https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_Gehlen#Aufbau_eines_Geheimdienstes).

[9] Katalog: „Handlungsspielräume – Frankfurter Polizeibeamte im Nationalsozialismus“, hg. Studienkreis Deutscher Widerstand 1933 – 1945, Frankfurt 1923, Projektleitung: Lisa Schrimpf, Konzeption: Lisa Schrimpf und Percy Hermann, Beratung: Thomas Altmeyer, Gottfried Kößler, Petra Bonavita; Ausstellungstexte: Lisa Schrimpf, Percy Hermann, Gabriele Prein, Gottfried Kößler; Lektorat: Gottfried Kößler, Thomas Altmeyer.   (https://www.frankfurter-info.org/news/handlungsspielraeume-zur-neuen-ausstellung-ueber-frankfurter-polizeibeamte-im-nationalsozialismus)

[10] https://taz.de/NSU-20-Prozess/!5861313/ ; https://www.fr.de/frankfurt/nsu-prozess-in-frankfurt-polizist-in-naziuniform-gezeichnet-91541349.html

[11] https://taz.de/Angriff-auf-Menschen-in-Hessen/!5951176/

[12] https://www.der-rechte-rand.de/archive/3348/vs-temme/

[13] https://www.hessenschau.de/politik/landtag/untersuchungsausschuss-kein-abschlussbericht-ueber-hanau-attentat-vor-der-landtagswahl-v3,hanau-ausschuss-verschiebung-bericht-100.html

[14] https://taz.de/Revision-des-Mordprozesses-Walter-Luebcke/!5873647/

[15] https://www.sueddeutsche.de/panorama/michel-friedman-neonazis-als-leibwaechter-ich-waere-gern-auf-dem-laufenden-gehalten-worden-1.859602

[16] https://www.frankfurter-info.org/news/der-studienkreis-deutscher-widerstand-1933-1945-die-frankfurter-polizei-und-der-hessische-verfassungsschutz

[17] Peer Heinelt, „Allgegenwärtige Ambivalenz. Neue deutsche Erinnerungspolitik jetzt auch bei der Polizei. Eine Frankfurter Ausstellung macht unter Hitlers willigen Vollstreckern lauter Widerstandskämpfer aus.“, in: konkret 9/23, S. 33f

[18] Abgesehen davon beteiligt sich Querl damit unkritisch an der Perhorreszierung des Volksbegriffs, der in Deutschland seit der Romantik bekanntlich zwischen Revolutionären und Reaktionären umkämpft war: bedeutete er für Revolutionär:innen jenseits ethnischer Zuschreibung die Gesamtheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten, so (und zwar in reaktionärer Absicht gegen diesen ersten Volksbegriff) für Reaktionäre das ethnisch gegen „andere“ abgegrenzte „deutsche Volk“. Wer wie Querl so tut, als gebe es nur die zweite dieser beiden Varianten, vollzieht diese historisch sekundäre Ethnisierung des Volksbegriffs gedanklich zustimmend mit und behauptet faktisch, das sei die einzig denkbare Lesart.

[19] zB. Joseph Goebbels, Tagebucheintrag auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Gegner:innen in den Kirchen 1937: „Nicht Partei gegen das Christentum, sondern wir müssen uns als die einzig wahren Christen deklarieren. Dann aber mit der ganzen Wucht der Partei gegen die Saboteure. Christentum heißt die Parole zur Vernichtung der Pfaffen, wie einstmals Sozialismus zur Vernichtung der marxistischen Bonzen“, zit. nach Volker Ullrich, Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939, Bd. 1, S.1058.
Mit ihrer hier problematisierten Semantik steht diese Ausstellung nicht allein, sondern befindet sich im mainstream von 99% aller fachlichen und publizistischen Äußerungen zum Thema, was die Sache nicht besser macht. Wer ohne Distanzierung von „Nationalsozialismus“ spricht, verbreitet objektiv im Sinn der NSDAP deren Propaganda. Es ist immer wieder verblüffend zu beobachten, daß selbst Linke, die ansonsten aus zB. identitätspolitischen Gründen penibel auf ihre Semantik und die anderer achten, in aller Regel völlig unkritisch den in brauner Absicht inszenierten Propagandabegriff „Nationalsozialismus“ verwenden.

[20] https://www.frankfurter-info.org/news/handlungsspielraeume-zur-neuen-ausstellung-ueber-frankfurter-polizeibeamte-im-nationalsozialismus

[21] Westdeutsche Zeitung, 16.6.2023, hier zit. nach Daniel H. Rapoport, Wuppertaler Unschärferelation. Wie neulich in der Westdeutschen Zeitung die Unterscheidung zwischen Nazi-Opfern und Nazi-Tätern keine Rolle mehr spielte, in: konkret 8/23, S. 48 – 50.

[22] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/etablierung-der-ns-herrschaft.html

[23] Schwur von Buchenwald. Ansprache in französischer, russischer, polnischer, englischer und deutscher Sprache auf der Trauerkundgebung des Lagers Buchenwald am 19. April 1945, in: Emil Carlebach, Willy Schmidt, Ulrich Schneider, Buchenwald. Ein Konzentrationslager, Köln 2000, Faksimile des Textes auf der hinteren inneren Umschlagseite. Auf der Internetseite der Gedenkstätte Buchenwald ist der Schluss des Textes signifikant abgeschwächt und verfälscht wiedergegeben: „Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.“ (https://liberation.buchenwald.de/otd1945/der-schwur-von-buchenwald)   

[24] https://www.youtube.com/watch?v=cn6mjY6AmNI

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Vor uns der Abgrund: der „Rechtsstaat“ in rasender Fahrt vom Autoland in die Klimakatastrophe



Mitten durch den Frankfurter Westen soll, so hat es die Bundesregierung beschlossen, die Autobahn A5 zehnspurig ausgebaut werden. Wegen des „überragenden öffentlichen Interesses“ soll die Betonierung großer weiterer Flächen, auf denen sich jetzt zum Teil noch Wiesen, Wald, Gärten und Wohnungen befinden, zu jenen 145 Teilprojekten des Bundesverkehrswegeplanes gehören, die im Eilverfahren mit reduzierten Naturschutz- und sonstigen Einspruchsmöglichkeiten durchgezogen werden sollen. Eine Machbarkeitsstudie zum zehnspurigen Ausbau der A5 liegt im Bundesverkehrsministerium seit Herbst 2022 vor, wird aber geheim gehalten und noch nicht einmal den Bundestagsabgeordneten der vom Ausbau bedrohten Stadtteile ausgehändigt.   

Wenn man sich vor Ort den Konsequenzen dieses Vorhabens stellt (Überblick), kommt man sehr schnell an den Punkt, an dem man an der Zurechnungsfähigkeit der Verantwortlichen auf allen Ebenen zweifeln muss.

Das ist keine polemische Behauptung, sondern bitterer Ernst. Ausgehend von den Erfahrungen in einer Frankfurter Bürger*innen-Initiative, die sich mit Mut und Engagement seit etwas über einem Jahr mit der ihr drohenden Gefahr in Gestalt des von oben geplanten Betonmonsters quer durch den Stadtteil beschäftigt – hier einige grundsätzliche Überlegungen.

Sie geben mein Erleben und Überdenken der Situation wieder, für das ich allein verantwortlich bin.  Sie beanspruchen nicht, Konsens der Bürger:inneninitiative „Es ist zu laut“ (esistzulaut.org) zu sein.

Hans Christoph Stoodt
Juli 2023

***

Seit langem sind immer wieder juristisch mehr als zweifelhafte Aktivitäten der Exekutive(n) in Deutschland zu beobachten, die von höchster politischer Stelle offenbar nicht nur akzeptiert, sondern maßgeblich vorangetrieben werden. Krasse Beispiele dafür sind die bis heute nie völlig aufgeklärten Vorgänge rund um die Verwicklung staatlicher Stellen in den Oktoberfestanschlag 1980, die Morde des NSU, die ebenso wenig aufgeklärten Umstände, unter denen offenbar über Monate die Obama-Administration der USA via NSA und in Kooperation mit deutschen „Diensten“ auch deutsche Regierungskommunikation inklusive des Smartphones der damaligen Kanzlerin abhörte, die Vorgänge rund um die Mordanschläge auf Walther Lübcke und in Hanau sowie andere mehr. Ein laxer Umgang mit Recht im Regierungsamt ist wahrlich keine sensationell neue Erscheinung hierzulande.

Die Ampelkoalition in Berlin geht aber derzeit einen Schritt weiter. Sie bricht ein ihrer Vorgängerregierung 2019 verabschiedetes, geltendes Gesetz und dessen Durchsetzung öffentlich und mit Ansage – und zwar nicht irgendein Gesetz, sondern das Klimaschutzgesetz. Sie bricht es, weil sie behauptet, es sei nicht einhaltbar, was offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht. Sie bricht es mit der Lüge, „die Menschen“ wollten es halt so, wie gern am Beispiel der obsessiven Bedeutung des Autofahrens (samt seiner klimapolitischen Konsequenzen) gezeigt werden soll: „Man steigt ein und fährt los – das bieten Bus, Bahn und Flugzeug in dieser Form nicht. Millionen Menschen wollen an diesem individuellen Freiheitsversprechen festhalten“, so Christian Lindner in einem bekenntnisartigen Artikel über die letzte IAA, die in Frankfurt stattfand.  

Dass dieser Vorgang unter einem „Klimakanzler“ und mit den GRÜNEN in der Regierungskoalition stattfindet, zeigt den realen Status der Klimafrage für Regierungspolitik in Deutschland. Es ist billige Ablenkung, daß in der öffentlichen Wahrnehmung bis weit in die gesellschaftliche Linke hinein Verkehrsminister Wissing von der rechtsliberalen Splitterpartei FDP daran vor allem schuld sein soll. Das ist natürlich Unsinn. Die gesamte Ampel-Koalition hat bei einer Klausurtagung ihres Koalitionsausschusses Ende März 2023 in Meseberg verabredet, das geltende Klimaschutzgesetz zu sabotieren.  

Damit begeht die ganze Regierungskoalition mit Ankündigung einen Rechtsbruch – denn das Klimaschutzgesetz ist nach wie vor in Kraft.  
Sie begeht zudem einen Verfassungsbruch – denn das aktuell geltende Klimaschutzgesetz wurde erst kurze Zeit vor seiner nun vereinbarten Aushöhlung aufgrund einer saftigen Rüge des Bundesverfassungsgerichts so formuliert, wie es nun offenbar als „Belastung“ empfunden wird – die Belastung besteht in der Rücksichtnahme auf die Möglichkeit nachfolgender Generationen, im Rahmen der Grundrechte der Verfassung leben zu können.

Sie begeht schließlich einen Völkerrechtsbruch – denn ohne die drastische Reduzierung von Treibhausgasemissionen gerade auch im Verkehrsbereich wird die Grenze von 1,5 – maximal 2 Grad Celsius Erderwärmung bis 2100, verglichen mit dem Durchschnitt des vorindustriellen Zeitalters, nicht einzuhalten sein. Dieselbe Trias von Rechts-, Verfassungs- und Völkerrechtsbruch wurde bereits 2021 in Bezug auf den derzeit geltenden Bundesverkehrswegeplan festgestellt (Bündnis „Wald statt Asphalt“, hier auch Links zu Rechtsgutachten zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Bundesverkehrswegeplans).  

Zur Erinnerung: das derzeit weiterhin geltende Klimaschutzgesetz ist in seiner aktuellen Fassung das Ergebnis einer Ohrfeige, die das Bundesverfassungsgericht im April 2021 den Verfasserinnen und Verfassern des Vorgängergesetzes verpasst hatte:

Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen …  in ihren Freiheitsrechten verletzt. Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030. Dass Treibhausgasemissionen gemindert werden müssen, folgt auch aus dem Grundgesetz. Das verfassungsrechtliche Klimaschutzziel des Art. 20a GG ist dahingehend konkretisiert, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur dem sogenannten „Paris-Ziel“ entsprechend auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Um das zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden. Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind. Der Gesetzgeber hätte daher zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern. Zu dem danach gebotenen rechtzeitigen Übergang zu Klimaneutralität reichen die gesetzlichen Maßgaben für die Fortschreibung des Reduktionspfads der Treibhausgasemissionen ab dem Jahr 2031 nicht aus“.

Das mit diesen Argumenten für zum Teil verfassungswidrig erklärte Gesetz war erst im Dezember 2019 von Kabinett und Bundestag verabschiedet worden. Nun musste es umgebaut werden.
Erst im August 2021 wurden abrechenbare Sektorziele für Teilbereiche der treibhausgasverursachenden gesellschaftlichen Bereiche veröffentlicht: Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft / Sonstiges.

Für alle diese Teilbereiche waren Verfahren festgeschrieben worden, mittels deren die Umsetzung der Klimaziele überwacht werden und bei deren Grenzüberschreitung Sanktionen greifen sollten. 

Ziel war es demzufolge, die im Pariser Klima-Abkommen von der Bundesrepublik völkerrechtlich verbindlich unterschriebenen Ziele im Rahmen dieses Vertrags und der UNO-Strategie gegen die Klimakatastrophe auch nachvollziehbar umzusetzen: „Die Emissionen sollen bis 2030 um mind. 65 % und bis 2040 um mind. 88 % gesenkt werden (gegenüber 1990). Zudem gelten in einzelnen Sektoren bis 2030 zulässige Jahresemissionsmengen. Die deutsche Klimapolitik ist eingebettet in Klimaschutzprozesse der Europäischen Union sowie der UNO.“ (ebenda)

Der Bereich Verkehr (und auch der Bereich der Bauwirtschaft) verfehlte seine Sektorziele aber erheblich – sowohl 2021 als auch 2022. Zudem legte Wissing nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, entsprechende Berichte und Maßnahmenplanungen zur Frage vor, wie im Bereich Verkehr künftig die CO2-Minderungsziele eingehalten werden könnte.

Dieses gesetzeswidrige Verhalten deckte und deckt offenbar „Klimakanzler“ Scholz. Es wurde einfach weitergebaut, weiterabgeholzt, weiterbetoniert und weitergefahren wie bisher – ein chronologisch zwar schon kurz vor dieser Zeit, aber dennoch besonders abstoßendes und gewalttätiges  Beispiel dieser bedenkenlosen Politik gegen die Klimagerechtigkeit war der Ausbau der A49 mitten durch ein Natur- und Trinkwasserschutzgebiet im Dannenröder Forst. Es fand nicht nur mit den GRÜNEN in der Bundesregierung, sondern auch in der mitverantwortlichen hessischen Landesregierung statt.
Selbst ein so minimaler, europaweit ansonsten überall akzeptierter Schritt wie die Vereinbarung eines Tempolimits auf Autobahnen gilt in Deutschland politisch als undurchsetzbar „ideologisch“ und „freiheitsfeindlich“, obwohl Umfragen immer wieder die gesellschaftliche Akzeptanz eines solchen Schritts dokumentieren.

Im März 2023 beschloss dann die Regierungskoalition ganz offiziell, sich nicht mehr an ihr eigenes Gesetz halten zu wollen: da es den Verkehrsminister ja sowieso nicht schere, könne man auch gleich die unter anderem ihn betreffenden und alle anderen Sektorziele ganz abschaffen. Nach der Sitzung des Koalitionsausschusses in Meseberg blieb es Klimaschutz-Minister Robert Habeck, vorbehalten, diesen U-Turn zu „begründen“: „In der großen Koalition und auch in der Ampel-Regierung hat der Verkehrssektor nicht geliefert und es hat niemanden interessiert. Es gab das Klimaschutzgesetz und es gab die politische Realität.“ Mit dem neuen Gesetz müsse die Zielverfehlung besonders durch die verfehlenden Ressorts aufgeholt werden, stellte er klar. Es sei zwar juristisch nicht mehr scharf, aber es gebe eine politische Verantwortung.“ Nichts anderes als schlechte politische Lyrik ist das insofern, als man mit größerer Berechtigung genau das Gegenteil sagen muss: bislang gab es immerhin rechtlich verbindliche Sektorziele. Nach deren Abschaffung, zu der auch Habeck loyal steht, sind die Verantwortlichen in den einzelnen Sektoren nur mehr politisch solche – was auch immer das heißt. Derzeit: nichts.
Mit anderen Worten: nach Abschaffung der Sektorziele des Klimaschutzgesetzes ist genau der Zustand wieder hergestellt, den es bereits einmal gab, und den Habeck selber als den der zwei nebeneinander existierenden Realitäten von Klimaschutz und politischer Realität gekennzeichnet hatte.  

Man muss nicht lange rätseln, wessen Interessen und Imperativen Verkehrsministerium und Bundesregierung mit ihrem Vorgehen sich unterwerfen: „Wirtschaft und Wohlstand“ würden schweren Schaden erleiden, wenn zB. ein als kritischer Gegenentwurf zu den Machenschaften der Ampelkoalition gemeinter Vorschlagskatalog zu klimagerechterer Verkehrspolitik von Fridays for Future umgesetzt würde, meinte Verkehrsminister Wissing.

Das geltende Klimaschutzgesetz ist bis zu seiner Novellierung im Sinn der Meseberger Beschlüsse in Kraft – was wahrscheinlich bis Herbst 2023 dauern wird. Es sieht auch weiterhin vor, daß die für die einzelnen, gekennzeichneten Sektoren verabschiedeten Reduktionsziele klimaschädlicher Emissionen nicht überschritten werden dürfen und was erfolgt, wenn ein solches Ziel nicht eingehalten wird. Das Gegenteil davon wird in der Praxis nicht nur einfach getan, sondern auch noch politisch gerechtfertigt – vom Klimakanzler und von Habeck, von Lindner und von Wissing unisono: „Ich hätte das jetzt nicht gebraucht, diese Gesetzesänderung, aber sie ist verabredet worden und da sind wir natürlich vertragstreu – und ich auch“ erklärte Habeck nach vollbrachter Tat von Meseberg. Vertragstreue ist wichtiger als Rechtstreue, ein „Ehrenwort“ gilt mehr als Recht und Verfassung – das kennt man ja bereits aus früheren Zeiten der Republik.

So verständlich der hin und wieder zur Schau getragene Ärger über die ostentative Verachtung für eine klima- und sozialgerechtere Verkehrspolitik besonders der FDP-Vertreter im Ampelkabinett sind – niemand zwingt die beiden anderen und größeren Parteien, sich dieses Verhalten länger bieten zu lassen. Niemand hindert sie, die Regierungskoalition aufzukündigen.

Sie tun es nicht und werden es auch in Zukunft nicht tun.
Die Frage ist ihnen also, wie soll man das anders verstehen, einfach nicht wichtig genug. Der kurzfristige Machterhalt ist ihnen wichtiger, als das, was mittel- und langfristig aus ihrer Politik mit eiserner Konsequenz folgt: eine weitere Eskalation der Klimaprobleme – die allerdings möglicherweise sehr viel schneller und umfassender zu Zusammenbrüchen der menschlichen Zivilisation führen wird, als gedacht: „Laut den besten Daten, die wir momentan haben, wird in den kommenden zehn Jahre das langfristige Schicksal unserer industriellen Zivilisation entschieden“. Wir haben eine Bundesregierung, die die Zeichen der schnell verrinnenden Zeit nicht erkennt oder nicht erkennen will – man kann sich darüber streiten, welche der beiden Möglichkeiten schlimmer wäre – und wenn im vorangegangenen Zitat vom „Schicksal unserer industriellen Zivilisation“ geredet wird, so ist das natürlich völlig falsch ausgedrückt. Gemeint ist: das Schicksal der maßgeblich global vom Kapitalismus bestimmten Art des gesellschaftlichen Lebens; unklar ist, was hier „unser“ heißen soll und das Wort „Schicksal“ hat den Klang unvorhersehbarer Kontingenz, was beschönigender Unsinn ist:  wir reden hier über die Ergebnisse absichtlichen und interessegeleiteten politischen Handelns oder auch Nichthandelns bis hin zum aktiven und öffentlich angekündigten Rechtsbruch.

Die volkswirtschaftlichen Schäden dieser Politik allein in Deutschland sind nicht endgültig absehbar, sie werden aber, so viel weiß man schon jetzt, in die Hunderte Milliarden gehen. Das ist seit vielen Jahren bekannt. Aber in einem Land, dessen Regierung ohne mit der Wimper zu zucken eine knappe Viertelmilliarde für das bewusst rechtswidrige Verhalten eines ehemaligen Bundesverkehrsministers auf den Tisch zu legen bereit ist, ist es vermutlich auch egal, wie viele Milliarden an Schäden durch absichtliches Tun und Lassen aufgrund der Verkehrspolitik seines Nachfolgers im selben Amt verursacht werden.

Natürlich wäre es grundsätzlich möglich, auf diesem Planeten so zu wirtschaften und zu leben, daß dessen natürliche Grenzen respektiert werden und gleichzeitig allen Menschen – und nicht nur privilegierten Minderheiten – ein Leben in Würde möglich wäre. Eckpunkte, innerhalb deren sich ein solches Leben aller bewegen müsste, um aus naturwissenschaftlicher Sicht global zukunfts- und verallgemeinerungsfähig zu sein, beschreibt aktuell die Studie „Safe and just Earth system boundaries“ des Forscher:innenkreises um Johan Rockstroem. Einzig ein Modell gesellschaftlichen Lebens, das, anders als der globale Kapitalismus, wenigstens potentiell in der Lage wäre, die natürlichen planetarischen Grenzen allen Lebens zu schützen, wäre mit Art. 1(1) des Grundgesetzes in Übereinstimmung zu bringen (ganz zu schweigen von den viel weiter gehenden Forderungen der jüdisch-christlichen Selbstverpflichtung zur Nächsten-, Fernsten- und Feindesliebe).

Wer sich an die schlicht vernünftigen Vorgabe wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung innerhalb der einzuhaltenden planetaren Grenzen nicht halten möchte und auf perverse Weise die eigene „Freiheit“ in einem wodurch auch immer fantasierten eigenen Recht zu höherem Ressourcenverbrauch sieht, als es der übrigen Menschheit zusteht oder im Rahmen der planetaren Grenzen verantwortbar ist, ist im strikten Sinn des Wortes ein antisoziales und amoralisches Wesen, das dem Rest der Welt wissentlich schaden will.  Ein solches ökozidales Verhalten sollte justiziabel und strafbar sein.

Wie aber eine Form des Wirtschaftens und gesellschaftlichen Lebens durchsetzbar sein soll, die nicht den Partikularinteressen privilegierter Reicher, sondern dem Leben Aller dient, das ist die Frage, die innerhalb einer immer kürzer werdenden Zeit über Gelingen oder Misslingen des offenen Experiments der menschlichen Geschichte, wie wenigstens wir sie kennen, entscheidet.
 
Eine Betrachtung von „Wirtschaft und Wohlstand“ aus diesem einzig verantwortbaren Blickwinkel ist der Regierung schon deshalb fremd, weil es ihr offensichtlich mehr um das Privateigentum von Produktionsmittelbesitzern geht als um die Gesellschaft insgesamt, nicht um citoyens sondern um bourgeois.

Die Klimapolitik der Ampelkoalition vertritt objektiv nicht das Interesse der Gesellschaft, sondern das einer winzigen, partikularen Minderheit, das gerne „Weiter so!“ machen möchte, weil sie ahnt: jeder Versuch, Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend anders, sozial und klimagerecht zu organisieren wird sie für immer ihre mörderischen Privilegien kosten, die nicht etwa in der individuellen „Gier“ einzelner Menschen (so sehr es die auch gibt), sondern in der objektiven Struktur der Bewegungsgesetze des Kapitals ihre Wurzel haben.

Das heißt: Sinn und Aufgabe der historischen Epoche, in der wir uns befinden, besteht darin, dieses Problem grundsätzlich, das Übel an der Wurzel packend, also radikal zu lösen.

Im Unterschied zu dieser Aufgabe muss es der Gegenseite darum gehen, möglichst wenig an substantieller Änderung des status quo  zuzulassen, also die dringend anstehenden Aufgaben gesellschaftlichen Lebens in der dazu verbleibenden Zeit eben nicht zu lösen.  Zumindest, solange es irgendwie geht – das wird vermutlich von Jahr zu Jahr nur mit immer größerem Aufwand an Formierung des gesellschaftlichen Bewusstseins bis hin zu nackter Gewalt zu machen sein, wie schon seit Jahren an den Außengrenzen der Wohlstandsinsel EU sichtbar.

Danach, wenn die Katastrophen flächendeckend sichtbar und fühlbar werden, sollen dann wahrscheinlich andere zuständig sein. Von Wissing, Scholz, Merz, Söder, Habeck, Baerbock, Weidel und Höcke und wie sie alle heißen wird man dann vermutlich nichts mehr hören.

Für den Rest der Menschheit gilt: „Die derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sprechen eindeutig für beispiellose, dringende und ehrgeizige Klimaschutzmaßnahmen, um die Risiken von Kipppunkten im Klimasystem zu begrenzen“.

Ob eine solche klimapolitische Wende im Rahmen der (fast) überall auf der Welt herrschenden Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion möglich und umsetzbar ist, scheint sehr fraglich.  

Die aktuelle Bundesregierung jedenfalls tut alles, um den Beweis anzutreten, daß den ihr angehörigen Parteien und Politiker:innen die Mitverantwortung für die globale klimapolitische Entwicklung nicht so viel wert ist, als daß man dafür die Regierungsmacht riskieren wollte. Lieber beugt und bricht man das geltende Recht, die Verfassung und das Völkerrecht nicht an irgendeinem, sondern an dem für den Fortbestand der natürlichen Grundlagen menschlicher Zivilisation entscheidenden Punkt. Um „weiter so“ machen zu können.

Sollte dieses infame Verhalten der Regierung nicht durch die hiesige Rechtsprechung gestoppt werden, sollten die bislang doch nun wirklich absolut systemkonform-braven und gewaltfreien Aktivitäten der Klimagerechtigkeitsbewegung wie Fridays For Future, Aufstand Last Generation, Extinction Rebellion, Ende Gelände usw. tendenziell auch noch zum Verstummen gebracht oder ins „terroristische“ Abseits manövriert werden – welche Mittel und Wege blieben dann noch, um das Schlimmste zu verhindern?

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Razzia für den Untergang: der Generalstaatsanwalt von München und das Gaspedal auf dem highway to hell

Die Razzien gegen die Aktivisti von „Aufstand Letzte Generation“ zeigen einmal mehr, wo sich Staat und Justiz derzeit positionieren.

Solche Razzien gibt es nicht wegen des sehr wahrscheinlichen Bruchs der Verfassung und ihres Artikels 20a GG im Rahmen der derzeitigen Verkehrs- oder Energiepolitik.

Kein Manager irgendeiner der betrügerischen Autofirmen, die im Zusammenhang der „Dieselgate“-Affäre nicht etwa, wie es verharmlosend hieß, „geschummelt“, sondern wissentlich und mit voller Profitabsicht Menschen und Mitwelt massiv geschädigt haben, wurde in der am 24.5. zu erlebenden Art und Weise drangsaliert, Razzien gibt es auch nicht gegen die RWE-Manager, die Landesregierungen von NRW und anderen Bundesländern, die ebenfalls wissentlich für das Profitinteresse großer Energiekonzerne riesige und nicht wieder gut zu machende Schäden angerichtet haben, auch nicht gegen die Autobahn-GmBH, die DEGES und die schwarzgrüne Landesregierung von Hessen, die beim Bau der A49 mitverantwortlich für die nun zu befürchtende Trinkwasservergiftung mit krebserzeugenden Rückständen der Sprengstoffproduktion bei Stadtallendorf für die frühere Nazi-Wehrmacht ist, und von der sie seit Jahren wissen konnten.

Nein. Razzien gibt es gegen Menschen, die mit fast schon religiösem und oft genug auch verzweilfeltem Eifer die Gewaltfreiheit ihrer Aktionen Zivilen Ungehorsams betonen und penibel praktizieren, auch wenn sie von wütenden Autofahrer:innen getreten, geschlagen, beschimpft, bespuckt, angezeigt wurden. Solch ein Verhalten soll den Tatbestand der Bildung einer „Kriminellen Vereinigung“ erfüllen.

Die Flut der Anzeigen von in ihrer Mobilitäts-Freiheit sich eingeschränkt fühlenden Büger:innen hat nun, so hört man es aus München, zu den Razzien des 24. Mai 2023 gegen „Letzte Generation“ geführt. Ausgerechnet gegen sie wird als mögliche „kriminelle Vereinigung“ ermittelt (129 StGB).

Das ist bodenlos, absurd, das ist staatliche Gewalt. Das ist zutiefst irrational – denn kein Milligramm CO2 weniger wird durch diese Aktion in die Atmosphäre gegast, nichts ändert sich in der Sache, um die es geht, zum Besseren. Das ist die in der Klimafrage in Wahrheit hilflos mit ihren Machtmitteln fuchtelnde Demonstration eines um sich schlagenden Staats, der diejenigen bestraft, die ihn, leider wohl allzu illusionär, an seine Amtspflichten erinnern.

Ich möchte, anstatt vieles andere zu zitieren, einfach nur daran erinnern, daß der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, Pfarrer Dr. Volker Jung, vor nicht allzulanger Zeit seine Solidarität mit „letzte generation“ bekundet und sie ausdrücklich gegen Kriminalisierungsversuche in Schutz genommen hat (https://www.ekhn.de/aktuell/detailmagazin/news/tempolimit-kirchenpraesident-drueckt-fuers-klima-auf-die-bremse.html).

Es bedarf schon eines CSU-Verständnisses von Christentum und Schöpfung, staatliche Machtmittel im heute zu erlebenden Ausmaß gegen Klimagerechtigkeitsaktivist:innen in Marsch zu setzen.

Alle, die die Hoffnung auf eine Welt nicht aufgegeben haben, in der soziale Gerechtigkeit, Frieden und ein rationaler, zukunftsfähiger Umgang mit den natürlichen Grundlagen der menschlichen Zivilisation als Möglichkeit in Blick und Reichweite bleiben, sind aufgerufen, sich lautstark und deutlich mit „Letzte Generation“ zu solidarisieren – völlig gleichgültig, ob man mit dieser oder jener Aktion der Gruppe voll und ganz einverstanden ist.

Zum Schluss: es gelang den Aktivistinnen und Aktivisten von „Aufstand Letzte Generation“ trotz der Tatsache, daß sie ihrer Kommunikationsmittel weitgehend beraubt waren, in der evangelischen Reformations-Kirche Berlins noch am Mittag des behördlichen Überfalls auf ihre Strukturen, eine vielbesuchte Pressekonferenz zu geben, dokumentiert hier. Neben den bemerkenswerten Stellungnahmen eines Sprechers der Kirche als auch der Aktivist:innen von „Letzte Generation“ wurde dazu aufgerufen, für Mittwoch, 1.6., 16 Uhr überall bundesweit Protestmärsche im Straßenverkehr zu organisieren (s.u.).

Veröffentlicht unter Allgemein | Kommentare deaktiviert für Razzia für den Untergang: der Generalstaatsanwalt von München und das Gaspedal auf dem highway to hell

Zur Spaltung der Kommunistischen Organisation

Ein Blick von außen[1]

Die Kommunistische Organisation (KO) hat sich gespalten. Am Wochenende wurde der seit Monaten immer tiefer gehende Riss durch die Organisation im Rahmen eines außerordentlichen Kongresses auch formal vollzogen.

Als Mitbegründer der KO im Juli 2018 habe ich die Organisation bereits im April 2019, also weniger als ein Jahr nach ihrem Start, wieder verlassen. Das lag an meinen inzwischen gesammelten Erfahrungen in der Organisation und der Einschätzung, daß die Verhältnisse in der Ortsgruppe, zu der ich gehörte, aber auch, damals schon, in deren bundesweiter Leitung keine Chance böten, die von mir und anderen eingeforderte Diskussion zur Klimafrage realisieren zu können. Ich habe das damals ausführlich dargelegt.

Der Verlauf des jetzigen Konflikts um die Analyse des aktuellen weltweiten Imperialismus und den imperialistischen Krieg in der Ukraine weisen strukturelle Analogien zur damaligen Diskussionslage auf, bei der es um ganz andere Fragen ging – umso signifikanter die Analogien.

Sie liegen – so meine Sicht – im politisch spaltenden und im Ergebnis liquidatorischen Verhalten derjenigen Kräfte in der KO, die spätestens seit Sommer 2021 auf eine Abkehr der Organisation von zentralen Punkten ihres Grundlagen-Dokuments, der im Juli 2018 verabschiedeten „Programmatischen Thesen“[2] hinarbeiten.

An diesen Thesen wie auch am Statut der KO habe ich vor der Gründung mitdiskutiert und mitgeschrieben. Ich sehe bis heute keinen politischen Anlaß, mich von ihnen zu distanzieren. Damit stehe ich, wenn auch heute unorganisiert, politisch klar hinter derjenigen Seite in der KO, die die Programmatischen Thesen beibehalten wird und auf dem Imperialismus-Verständnis dieses Dokuments basierend den Ukraine-Krieg als zwischenimperialistische Auseinandersetzung versteht – zwischen USA / EU / NATO einerseits, der Russischen Föderation andererseits, der (bisher nur) auf dem Territorium der Ukraine ausgetragen wird, aber durchaus das Potential zu dramatischen Weiterungen hat.

Es ist offenkundig und wurde inzwischen mehr als einmal klar beschrieben, daß die KO-Fraktion, die sich in radikaler Abkehr vom Imperialismus-Verständnis der Programmatischen Thesen selbst auf Seiten Russlands stellt, den Krieg in der Ukraine als „Verteidigungs“-, als „antifaschistischen Befreiungs“- oder gar als „nationalen Befreiungskrieg“ Russlands versteht, seit Monaten unter anderem mit der Taktik gearbeitet hat, eine Entscheidung der Organisation in dieser Frage so lange wie möglich hinauszuzögern.

Welche paralysierenden Konsequenzen das für das Auftreten der KO in der aktuell gesellschaftlich omnipräsenten Frage von Krieg und Frieden hat, wie sehr es sie in dieser Frage handlungsunfähig macht, braucht hier nicht weiter erklärt zu werden – im Rahmen eines Referats und einiger Diskussionsbeiträge für eine Konferenz der Marx-Engels-Stiftung im Juli 2022 haben andere und auch ich das thematisiert (s.u.).

Diese Handlungsunfähigkeit hat drastische Konsequenzen. Ich war seit Februar 2022 auf einer ganzen Reihe von Demonstrationen zum Ukrainekrieg. Bei den meisten herrschte mehrheitlich ein geradezu jaulender Pro-Imerialismus und uneingeschränkte Solidarität mit dem heutigen neoliberal-faschistischen ukrainischen Staat[3]. Rufe nach Waffen für die Ukraine wurden selbst von traditionellen Teilen der Friedensbewegung wie Gewerkschaften und Kirchen erhoben. Wer das vor Ort lautstark kritisierte wurde niedergeschrien.

Die KO war (mit Ausnahme weniger individueller Teilnehmer:innen, die nicht als Organisationsmitglieder auftraten), unsichtbar. Sie konnte auch nicht sichtbar auftreten. Denn sie hatte und hat bislang keine politisch Position zum Ukraine-Krieg, die auch nur den einfachsten Rückfragen Stand halten könnte.

Diese Situation ist kein Einzelfall.

Auch in der Klimafrage war die KO in den dreieinhalb Jahren ihrer bisherigen Existenz nicht entscheidungs- und damit auch politisch nicht argumentations- und handlungsfähig.

Nachdem ich im September 2018 erlebte, daß führende Mitglieder der KO allen Ernstes entschieden leugneten, daß es so etwas wie einen „menschengemachten“ (in Wahrheit natürlich: kapitalistischen) Klimawandel überhaupt gäbe, beschloß ich, diese Frage nicht um des lieben Friedens willen auf sich beruhen zu lassen. Die Frage wissenschaftlichen Arbeitens als Grundlage der Politikentwicklung in damals auch noch meiner Organisation, aber auch die Frage, wie wir mit einer praktisch die gesamte Gesellschaft beschäftigenden Thematik umgehen wollten, stand hier zur Debatte. Anfang 2019 schrieb ich darum gemeinsam mit drei Genossen der KO einen Diskussionsbeitrag zur Frage der beginnenden Klimakatastrophe und deren Relevanz für die kommunistische Bewegung. Nachdem wir zunächst für diese eigenständige Initiative massiv kritisiert worden waren, wurde dann seitens der Leitung beschlossen, diesen Artikel nicht vor der nächsten Vollversammlung der Organisation im Juli 2019 zu veröffentlichen – was ein weiteres monatelanges Schweigen bedeutete.

Daraufhin begründete ich in einer ausführlichen politischen Erklärung meinen Austritt aus der KO und forderte die Leitung auf, diese Austrittserklärung allen Mitgliedern intern zur Kenntnis zu geben. Das geschah nicht. Meine Austrittserklärung dürfte den meisten Genossinnen und Genossen bis heute unbekannt geblieben sein – ich habe sie, um nicht Interna auf dem Marktplatz zu diskutieren, auch bis heute nie veröffentlicht (und werde das auch künftig nicht tun).

Mit Beginn der „Diskussionstribüne Klima“ im Herbst 2019 auf der Homepage der KO wurde unser Text dann endlich veröffentlicht[4]. Auch andere äußerten sich damals, und ich konnte noch zweimal meine Meinung zur Klimafrage darlegen: zu den Konsequenzen unserer Positionslosigkeit zur Klimakatastrophe im Rahmen der Diskussion über Massenarbeit[5], als auch zur Frage, was es unter dem Aspekt der politischen Zeitökonomie[6] bedeutet, die Frage der globalen Klimakrise bei der Formulierung einer kommunistischen Strategie einfach zu vernachlässigen – und zwar mit dem evident antiwissenschaftlichen „Argument“, eine Klimakrise, auf die menschliches Handeln Einfluss nehmen könne, gäbe es gar nicht[7].

Diese Diskussion endete dann mit dem Verdikt meines damaligen Genossen Philipp Kissel, bei mir handele es sich um einen Revisionisten, mit dem man sich nicht weiter auseinandersetzen müsse[8] (Klara Bina ging noch einen Schritt weiter und veralberte in einem zusätzlichen Beitrag einen Artikel, den ich in einem evangelischen Gemeindeblatt, also nicht etwa auf den Seiten der KO, zur Klimafrage veröffentlicht hatte[9]).

Was war das Ergebnis? Zu einer Beschlussfassung der KO in der Frage des Klimaproblems kam es nie. Bis heute vertritt die KO schlicht und einfach gar keine Position dazu – als handele es sich bei der Klimafrage um ein x-beliebiges Randproblem, das man später mal oder eben gar nicht diskutieren müsse.

Den Gipfelpunkt der arroganten Ignoranz an dieser Stelle lieferte vor kurzem leider Nasrin D. in einem Beitrag zur aktuellen Auseinandersetzung in der KO, in dem sie urteilte: „Gerade die „Umweltbewegung“ besteht bekanntlich aus einer Melange aus bürgerlichen Kids, Lobbyismus und reaktionärem Getümmel und die meisten Proletarier halten meilenweiten Abstand.[10]

Ach, hätte Nasrin doch wenigstens von Oktober bis Dezember 2020 im Dannenröder Wald miterlebt, wie das ist, wenn SEK-Höheninterventionsteams, BFE- und USK-Einheiten ein Barrio in dem besetzten Wald stürmen, dort alles kurz und klein schlagen, wo damals bereits seit einem Jahr „bürgerliche Kids“ heftigen Widerstand gegen das Wahnsinnsprojekt des Baus der A49 durch ein Trinkwasserschutzgebiet[11] leisteten und sich damit den Respekt, die Sympathie und tatkräftige Solidarität der Menschen in den umliegenden Dörfern und Ortschaften verdient hatten! Ihr leichtfertiges Gerede aus der Sofaperspektive wäre ihr im Hals steckengeblieben. Weder im Dannenröder Wald noch im Hambacher Forst, im niederrheinischen Braunkohletagebau bei Lützerath oder bei ähnlichen Gelegenheiten hatten die enorm entschlossenen und opferbereiten, meist sehr jungen Aktivistinnen und Aktivisten auch nur den Funken einer Chance – aber sie taten, was zu tun möglich war, sie leisteten erbitterten Widerstand bis zum letztmöglichen Zeitpunkt und darüber hinaus, Widerstand, bei dem es in einem Fall auch einen Toten gab – aber selbst schon unter diesen verzweifelt aussichtslosen Bedingungen des Widerstands fuhr der Staat gewaltige Kräfte auf, um seine imperialistische Fossil-Agenda durchzusetzen.
Von der KO war und ist in den Auseinandersetzungen um Lützerath, um den Dannenröder Forst, um den Fechenheimer Wald, um die gesamte Frage der Klimagerechtigkeit niemand zu sehen, kein erklärendes, vorwärtsweisendes, organisierendes Sterbenswörtchen zu lesen oder zu hören gewesen.
Kein Wunder, absolut konsequent: in dieser Frage gab und gibt es von Seiten der KO, abgesehen von (zum Teil sehr guten) Diskussionsbeiträgen[12], weder eine eigene wissenschaftliche Analyse noch eine politische Position noch irgendeine Form der Praxis im gesamten politischen Handlungsfeld – und zugleich sehr viel Diskussionsbedarf, den Marxistinnen und Marxisten eigentlich nutzen müssten. Aber das können sie nach Lage der Dinge natürlich glaubwürdig nur, wenn sie im Konflikt präsent sind, wenn sie dabei sind[13], wenn die Polizei gewalttätig zuschlägt um zB. die Interessen der deutschen Bau-, KFZ- und Energiekonzerne durchzusetzen, wenn es um zum Teil schwer Verletzte, um Festgenommene, um Untersuchungshäftlinge, um Prozesse in großer Zahl geht. Hochnäsige Etikettierungen und Kommentare von der Seitenlinie wären da Gift für die Glaubwürdigkeit der KO – wenn von den kämpfenden Menschen vor Ort überhaupt jemand wüsste, was das ist. Aber so, wie es ist, blieb und bleibt es Einzelnen vorbehalten, nach bestem Vermögen und ziemlich einsam marxistische Positionen in die Debatte um das „Wie weiter?“ der Klimagerechtigkeitsbewegung der BRD einzubringen.[14]

Soweit der Rückblick zum Schicksal der Klimafrage in der KO und auf diesem Hintergrund ein erneuter Blick auf die aktuelle Debatte um Imperialismus und Krieg (meine Position dazu habe ich im Juli 2022 während der erwähnten Konferenz der Marx-Engels-Stiftung[15] dargelegt[16]).
Ich halte es für völlig abwegig, sich als Kommunistin / Kommunist im Zusammenhang des gegenwärtigen imperialistischen Kriegs auf eine der beiden Seiten zustellen. Dies ist in der Tat „Nicht unser Krieg!“, wie der Titel des Antrags der revolutionären Fraktion der KO für den Außerordentlichen Kongress lautet[17], während die Gegenseite, sich selbst als Mehrheit bezeichnend, der Ansicht ist, der einzige Vorwurf, den man der Russischen Föderation und ihrer Führung machen könne sei, daß sie nicht schon viel früher in die Ukraine einmarschiert sei – wofür sie sogar eine Person wie den salafistischen Prediger Bernhard Falk auf ihrer Homepage zu Wort kommen ließ, was von der Gegenseite scharf kritisiert wurde.[18] Mit solchen Positionen und einer solchen Veröffentlichungspraxis steht die proimperialistische Fraktion der KO deutlich rechts von heute in der DKP vertretenen Ansichten.

In den zu debattierenden Sachfragen sind, finde ich, alle Argumente ausgetauscht. Es gab und gibt aus meiner Sicht keinerlei Grund, die Programmatischen Thesen der KO zu revidieren, wie das von Teilen der Organisation heute gefordert, genauer gesagt: einfach getan wird, ohne daß es, wenn ich es von außen richtig sehe, eine Basis in der Beschlußlage der KO hätte. Es ist für mich überzeugend dargelegt, welche tiefen erkenntnistheoretischen / wissenschaftspraktischen, imperialismusanalytischen, den Internationalismus betreffenden, strategisch-taktischen und organisatorischen Abweichungen vom Marxismus hier vorliegen[19]: man muss die Positionen der aktuellen Leitungs-Mehrheit als nationale und revisionistische Abweichung vom 2018 mit den Programmatischen Thesen der KO erreichten Diskussionsstand charakterisieren, die in der Paralyse und Unsichtbarkeit der KO in den derzeit laufenden brennenden gesellschaftlichen Diskussionen in Zeiten einer raschen und weitgreifenden Rechtsverschiebung des gesamten gesellschaftlichen Koordinatensystems ihre Früchte in der wachsenden Bedeutungslosigkeit der gesamten Organisation trägt.

Und wieder sind es dieselben Personen und Kräfte, die 2019/20 in der Klimafrage eine Beschlussfassung und Positionierung der Organisation verunmöglichten und heute erneut unter der Parole der erst noch abzuschließenden „Klärung“ in Wirklichkeit die gesamte Organisation lähmen und faktisch zu einer Art Diskussionszirkel machen, während sie selbst durch nicht im Diskussionsstand der Organisation abgedeckte öffentliche Äußerungen positionell Fakten schaffen, und zwar die falschen. Ihr Vorgehen ist allerdings diesmal erheblich massiver – kein Wunder, haben sie es doch jetzt endlich mit einer offenen und heftigen Debatte zu tun, die sie nicht einfach so wegdrücken können.

Die KO ist 2018 angetreten mit dem Ziel, auf der Basis ausführlich diskutierter Programmatischer Thesen eine kommunistischen Klärungsprozess zu beginnen, an dessen Ende der Weg zum Aufbau einer Kommunistischen Partei in Deutschland stehen soll. Etwa die Hälfte der Organisation will auf diesem Weg bestehen und ihn weiterentwickeln. Diejenigen, die das nicht wollen – mögen sie woanders ihr Glück finden[20].
Eine nach eigenem Anspruch kommunistische Organisation, die zur Frage des Imperialismus wie zur Frage der Klimakatastrophe aus Gründen ihrer inneren Paralyse monate- und jahrelang der Arbeiter:innenklasse, den Menschen, die für Klimagerechtigkeit, eine Perspektive für die Gattung und gegen den Krieg kämpfen, einfach gar nichts zu sagen hat, weil sie nicht weiß, was sie zu alledem überhaupt gemeinsam sagen könnte, braucht niemand.

Den marxistischen Kräften in der KO kann ich nur Erfolg wünschen und ihnen meine Solidarität ausdrücken.






[1] Dieser Text entstand kurz vor dem Außerordentlichen Kongress der Kommunistischen Organisation (KO), der am 7./8. Januar 2023 stattfand. Er kann also dessen Ergebnisse nicht beurteilen. Aus heutiger Sicht und nach öffentlicher Aussage beider Flügel der KO ist die Spaltung vollendete Tatsache. Im Folgenden werden Personen nur dann namentlich benannt, wenn dies ohnehin öffentlich der Fall war bzw. so, wie es in den zitierten Textpassagen der Fall ist.

[2] https://kommunistische.org/programmatische-thesen/

[3] zu diesem Verständnis der Ukraine seit 2014 vgl. den damals gemeinsam mit Wolf Wetzel veröffentlichten  Text:  https://wurfbude.wordpress.com/2014/04/12/euro-maidan-das-laute-schweigen-des-antifaschismus/

[4] https://kommunistische.org/diskussionstribuene-klima/kapitalismus-oekologische-zerstoerung-und-kommunistische-strategie/

[5] https://kommunistische.org/vollversammlung-2019/diskussionstribuene/bis-zu-einem-gewissen-grade-mit-den-massen-zu-verschmelzen-lenin/

[6] https://kommunistische.org/diskussionstribuene-klima/oekonomie-der-zeit-kommunistische-strategie-im-horizont-der-kapitalistischen-klimakatastrophe/

[7] Tatsächlich war zum damaligen Zeitpunkt die AfD die einzige politische Kraft in der BRD, die solche Positionen ebenfalls vertrat: sie hatte durch Bundesparteitagsbeschluss (!) 2016 festgestellt, einen anthropogenen Klimawandel gebe es nicht.

[8] https://kommunistische.org/diskussionstribuene-klima/wohin-fuehrt-die-klimakatastrophe/ Der „Revisionismus“, den mir Kissel damals vorwarf, bestand darin, daß ich die Vermutung geäußert hatte, im Rahmen einer anzunehmenden Erwärmung der globalen Temperatur um 4 Grad bis zum Jahr 2100 sei es fraglich, ob die unter solchen Bedingungen lebenden menschlichen Gesellschaften sich noch nach den uns heute bekannten gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten entwickelten. Im Vergleich zur radikalen „Revision“, die Friedrich Engels bei dem bis heute bekanntesten Grundsatz des historischen Materialismus, dem ersten Satz des „Manifest“, schrittweise in den Jahren 1886, 1888 und 1890 vollzog, ist das sehr bescheiden – die von Engels völlig zu Recht getroffene Einschränkung des berühmten Klassenkampf-Satzes schließt nach heutigem Wissenstand etwa 95% der menschlichen Geschichte, die Phase von der Entstehung menschlichen Lebens vor ca. 2,7 Millionen Jahren bis zur Entstehung von frühen Klassengesellschaften ca. 10.000 vuZ, also die Urgesellschaft, aus dem Geltungsbereich dieses Satzes aus, vgl. MEW 4, S. 462, Anm. **.
Man kann es mit Fug und Recht für blauäugig und ungeschickt von mir halten, meine oben geäußerte, natürlich angreifbare Vermutung überhaupt im Rahmen dieses Konflikts erwähnt zu haben. Sie ist im Übrigen auch für den politischen Kontext des Konflikts um den richtigen Umgang mit der Klimakrise leicht entbehrlich. Aber für Kissel bot sie den (wahrscheinlich willkommenen) Anlass, die weitere Diskussion der Klimafrage für die KO mit dem Etikett des Revisionismus zu versehen.

[9] https://kommunistische.org/diskussionstribuene-klima/lasst-uns-ueber-die-katastrophe-reden/

[10] https://kommunistische-organisation.de/allgemein/worum-geht-es-der-minderheit/

[11] https://wurfbude.wordpress.com/2022/05/16/giftmull-aus-nazi-zeiten-auf-der-a49-trasse-gefahr-fur-arbeitende-und-das-trinkwasser-der-rhein-main-region/; https://wurfbude.wordpress.com/2022/10/26/danni-verdacht-auf-gift-im-trinkwasser-bestatigt-baustopp-sofort/

[12] aus meiner Sicht herausragend: https://kommunistische.org/diskussionstribuene-klima/ist-es-moeglich-innerhalb-des-kapitalismus-die-natuerlichen-lebensgrundlagen-der-menschheit-zu-erhalten/

[13] das war der Sinn meines oben, Anm. 2 genannten Diskussionsbeitrags zur Massenarbeit der KO.

[14] https://wurfbude.wordpress.com/2021/10/18/auf-der-suche-nach-der-furt/

[15] https://www.marx-engels-stiftung.de/veranstaltungen/eventdetail/147/-/frieden-gebieten-wo-die-herrschenden-krieg-schreien

[16] s.o. Anm. 2  

[17] https://kommunistische.org/wp-content/uploads/2022/12/Antrag_Minderheit_Resolution-nicht-unser-Krieg-2.pdf

[18] https://kommunistische.org/allgemein/man-darf-gegen-die-nato-nicht-laenger-zeit-verlieren-sondern-muss-jetzt-das-momentum-der-geschichte-nutzen/

[19] zuletzt: https://kommunistische.org/allgemein/klarheit-durch-wissenschaft/ ; https://kommunistische.org/allgemein/zur-multipolaren-weltordnung/ ; https://kommunistische.org/allgemein/der-revisionismus-in-unseren-reihen/

[20] LW 5, 364f

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