Der folgende Text stellt die geringfügig erweiterte Version eines Interviews mit Milena Rampoldi für das interkulturelle Netzwerk promosaik eV. dar. In einer unwesentlich kürzeren Fassung findet sich der Text des Interviews auch auf den Blogs promosaik und pressenza.
Milena Rampoldi (MR): Der Kampf für Gerechtigkeit ist für uns von ProMosaik e.V. eine Schnittstelle zwischen den monotheistischen Religionen und dem Marxismus. Wie sehen Sie das?
Hans Christoph Stoodt (HCS): Die Schnittstelle besteht darin, dass die monotheistischen Religionen egalitäre und universalistische Grundtendenzen aufweisen. Das folgt als praktische Konsequenz aus ihrer Grundannahme eines einzigen Gottes, der alles geschaffen habe. Aus dieser Annahme folgt logisch eine aus dem für alle gleichen unendlichen Abstand von Schöpfer und Geschöpf resultierende grundsätzliche Gleichheit der Geschöpfe untereinander.
Am Anfang galten Gleichheitsforderungen dieser Art zunächst vermutlich eher für die je eigenen Gruppen. Dann weiteten sie sich universalisierend auf alle Menschen aus. Darum heißt es in Thora des Mose zunächst auf Israel bezogen: „Arme soll es bei euch gar nicht geben“, später wird daraus eine Idee der Gleichheit aller Geschöpfe vor Gott in Judentum, Christentum und, wenn ich es richtig sehe, auch im Islam.
Die jüdisch-christliche und auch die islamische Theologie plädieren deshalb, wenn sie bei diesem Anspruch bleiben wollen, objektiv für eine reale Gleichheit als gesellschaftliches Ziel. Dem folgen sie natürlich faktisch meistens nicht, weil sie sich in den zahlreichen Notwendigkeiten und wie auch immer begründeten strategischen Rücksichtnahmen auf Teile der vorgefundenen Machtstrukturen der Welt verheddern, sowie sie keine Minderheitenerscheinung sind, sondern an der Gestaltung der Gesellschaften, in denen sie existieren, teilnehmen wollen. Die ursprünglich gemeinte Gleichheit treibt aber dennoch, wenn meist auch nur als weitergegebene Tradition über die Grenzen der eigenen Gruppe hinaus. Es handelt sich also nicht einfach nur um abstrakte Prinzipien, sondern um praktische Handlungsanweisungen, auch wenn diese oft genug verschüttet sind.
Nun die Verbindung zum Marxismus: dessen theoretisch-praktischer Erfahrungsschatz – zB. Peter Weiss hat eindrucksvoll gezeigt: nicht nur aus Theorie und Praxis der Arbeiter*innenbewegung, sondern auch aller vorangegangenen Unterdrückten – weiß: diese Gleichheit lässt sich nicht realisieren, solange es Klassengesellschaften gibt. Als Christ empfinde ich den Marxismus deshalb als ein höchst nützliches Erkenntnis- und Praxis-Werkzeug, das den Weg in eine Gesellschaft weist, in der es keine Klassen mehr, mithin erstmalig auch eine reale Chance auf die Verwirklichung von Gleichheit gibt. Der Kampf darum kann und wird nicht im ersten Anlauf gewonnen werden. Die Zerschlagung der Pariser Commune, die fast weltweite Niederlage des Sozialismus 1989/91 können die Perspektive auf eine Gesellschaft jenseits der bürgerlichen Gesellschaft nicht aus der Welt schaffen. Zudem: auch die bürgerliche Gesellschaft hat mindestens 500 Jahre gebraucht, um sich als dominante Kraft der Weltgesellschaft zu etablieren, die sie heute zweifellos und zum Schaden von Natur und Gattung noch immer ist.
Wenn ich also die mit Jüdinnen/Juden und Muslimen gemeinsame Basis, das Bekenntnis zur Einheit Gottes und den daraus folgenden grundlegenden Imperativ dieser religiösen Traditionen praktisch ernst nehme, dann kämpfe ich für das gesellschaftliche Ziel realer, und das heißt heute immer auch: globaler Gleichheit.
Das ist eine wichtige Traditionslinie bis heute im Christentum. Trotz allen fast grenzenlosen Unheils, das im Namen der Kirchen über Millionen von Menschen gebracht worden ist: diese Linie war nicht totzukriegen. Den Marxismus verstehe ich als das heute angemessenste Werkzeug, um das uralte Ziel einer grenzenlosen Republik der Freien und Gleichen, einer klassenlosen, herrschaftsfreien Gesellschaft, einer Gesellschaft, die durch die reale Anerkennung der Gleichheit ihrer Mitglieder den einen Gott ehrt, praktisch zu erreichen.
Eine erst dann in einem vollen Sinn konsequent zu stellende Frage ist die nach der Wahrheit religiöser Traditionen auch außerhalb des gemeinsamen Kampfes um Gleichheit. Erst in einer klassenlosen Gesellschaft ohne Unterdrückung, Ausbeutung, Krieg, Staat, Patriarchat und Raubbau an der Natur kann sie wirklich breit und heiß diskutiert werden, ohne im ideologischen Klassenkampf verzerrt, für die Interessen der Herrschenden mißbraucht zu werden. Hier und heute aber leben wir gemeinsam in einem gepanzerten Herrschaftsgefüge. Dagegen müssen wir für eine herrschaftsfreie Gesellschaft kämpfen – um den realen Raum kämpfen, in dem auch noch die letzten und tiefsten Fragen konsequent geklärt werden können, ohne dabei hinterrücks für die Herrschaftsinteressen zum Beispiel von Ausbeutern herhalten zu sollen.
Monotheistische Religionen und Marxismus können und sollen also aus der Perspektive dieser Argumentation deshalb ein gesellschaftliches und politisches Bündnis eingehen, weil es für beide als Ziel die Verpflichtung auf unbedingte Gleichheit gibt – nicht als abstraktes Prinzip, sondern als real zu verwirklichender Zustand.
MR: Wir sehen Zivilcourage als eine religiöse Pflicht an. Was verstehen Sie darunter – wie sehen Sie das?
HCS: „Zivilcourage“ ist ein Begriff, den ich nicht gerne verwende. Er ist beliebig geworden und verbraucht, in der Regel politisch unscharf. Heute reklamieren ihn selbst Nazis und Rassisten für sich. Ich sehe den notwendigen Kampf gegen Ausbeutung, Imperialismus, Rassismus und Krieg als eine gesellschaftliche Aufgabe für jeden denkenden und fühlenden Menschen, der nicht zu den wenigen Profiteuren solch menschenfeindlicher Strukturen des Todes gehört.
Ich würde statt von Zivilcourage deshalb lieber weitergehend von einer umfassenden gesellschaftlichen Arbeit der Befreiung auf allen Ebenen sprechen. Ich bringe mich, so gut ich kann, in gesellschaftliche Kämpfe ein, um hoffentlich auch mit meinem winzigen Beitrag irgendwann für alle Gleichheit global zu erreichen. Alle, die leben, sollen eine in allem gleiche Möglichkeit haben, da sein, und das heißt natürlich auch: verschieden sein zu dürfen – je gleicher die realen Möglichkeiten für alle, desto größer das Recht und die wirkliche Möglichkeit zur Verschiedenheit.
Was niemand dürfen soll, ist: Schwestern und Brüder, Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen ausbeuten, unterdrücken, durch Strukturen wie zB. Nationalismus und Rassismus zu unterdrücken, ihnen ihre Menschlichkeit aberkennen, ihnen das Recht auf Geschwisterlichkeit und Gleichheit praktisch zu verweigern. Alle sollen das Recht auf Gleichheit und auf Unterschiedlichkeit auf der Basis dieser Gleichheit haben. Dafür zu kämpfen ist heute das Entscheidende – nicht nur, um dieses hohe Ziel zu erreichen, sondern nach meiner festen Überzeugung auch nur schon dafür, unser Überleben zu sichern. Rosa Luxemburgs Alternative: „Sozialismus oder Barbarei“ ist von brennender Aktualität. Ich sehe nichts Drittes. Die einzig denkbare andere Möglichkeit ist „der gemeinsame Untergang der kämpfenden Klassen“, wie Marx und Engels das im Manifest schon formuliert haben – das, was wir heute de facto in bedrohlichen Anfängen einer solchen Katastrophe weithin haben: eine globale Apartheid, in der der Wohlstandsvorsprung der Reichen, allen voran der Herrschenden in den imperialistischen Staaten, durch eine Vielzahl juristischer, politischer, wirtschaftlicher Maßnahmen weiter gesteigert und verewigt werden soll, in letzter Konsequenz und wenn notwendig auch militärisch geschützt.
Der Kern dieses Wohlstandsvorsprungs für wenige besteht im Wahnsinn der kapitalistischen Warenproduktion, im Kapitalverhältnis. Es würde zu weit führen, das jetzt detailliert vorzurechnen, aber als Beispiel mag die von Jean Ziegler immer wieder vorgetragene Tatsache genügen, daß heute, bei einer globalen Nahrungsmittelüberproduktion von fast 100% , alle 24 Stunden fast doppelt so viele Menschen an den Folgen von Unterernährung sterben, wie es zivile und militärische Opfer an einem durchschnittlichen Tag des Zweiten Weltkriegs gab. Das, was dem kollektiven Gedächtnis der Menschen mindestens in Europa als die größte Katastrophe der Geschichte gilt: Nazifaschismus, Shoah, Zweiter Weltkrieg, wird heute jeden einzelnen Tag ums Doppelte übertroffen, wenn man es in den Opferzahlen menschlichen Lebens mißt. Tendenz steigend und kein Ende in Sicht. Überproduktion bei gleichzeitiger Unterkonsumtion – das ist ein typisches, ein systemimmanentes Kennzeichen der kapitalistischen Produktionsweise, gerade in ihrem heutigen imperialistischen Endstadium. Das kostet Jahr für Jahr über 800 Millionen Menschen das Leben. Und diese Hungertoten sind nur eine von vielen globalen Opfergruppen der eingangs genannten Dominanz der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn man sich das klarmacht, kann eigentlich keine Anstrengung genügen, diesem Wahnsinn auf allen Ebenen und mit allen Mitteln entgegenzutreten. „Was ist denn Nächstenliebe anderes als Revolution?“ – so haben das die kommunistischen Sänger*innen des „Oktoberklubs“ der DDR mal Oscar Romero zu Ehren treffend formuliert.
Worum wir stattdessen kämpfen müssen, ist, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Gleichheit herrscht – was nach allem, was wir heute wissen, nur nach einer sozialistischen Umwälzung mit der Perspektive des Aufbaus einer klassenlosen Gesellschaft, also des Kommunismus, möglich sein wird. Das ist eine moralische und eine gesellschaftlich-praktische Frage.
MR: Sie setzen sich auch für Palästina ein. Was bedeutet für Sie Palästina und wie kann man sich im Ausland dafür einsetzen?
HCS: Palästina ist zunächst ein leider ganz normaler Fall nationaler und sozialer Unterdrückung. Privilegien einer sich selbst ethnisch-religiös und national definierenden herrschenden Klasse und ihres Staats werden in vielfacher Form, in letzter Konsequenz auch militärisch, gegen die Armen einer wiederum ethnisch, heute zunehmend auch noch religiös „begründeten“ ausgeschlossenen und unterdrückten Gruppe geschützt. Das gibt es in vielen Konflikten auf der Welt, und wer gegen Unterdrückung und Krieg aktiv ist, weiß in einem solchen Fall, auf welcher Seite sie/er in diesem Konflikt Ihren/seinen Platz hat.
Für meine Sprecherpositon als jemand, der aus Deutschland stammt, ist der Palästina-Israel-Konflikt aber natürlich ein besonderer Fall. Der israelische Staat und viele Menschen, die dort leben, begründen die Notwendigkeit eines besonderen jüdischen, also eines vorbürgerlich, nämlich ethnisch-religiös begründete Staats, nicht zuletzt mit dem einzigartigen Verbrechen der Shoah, das der deutsche Nazifaschismus zu verantworten hat. Das respektiere ich, auch wenn mir schon aus der Sicht ganz normaler, bürgerlich-demokratischer Vorstellungen nicht einleuchtet, was ein „christlicher“, ein jüdischer“, ein „islamischer“ oder ein sonstwie religiös begründeter Staat eigentlich sein soll. Solange es Staaten gibt, sollten sie auf ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe nichts anderes sein, als demokratische Republiken all ihrer jeweiligen BewohnerInnen mit gleichen Rechten – nicht unterschieden nach ethnischen oder religiösen Gruppierungen, die mehr oder weniger Rechte haben. Ich habe aber auch nicht zuletzt von israelischen Linken, zB. der Holocaust-Überlebenden und Rechtsanwältin Felicia Langer gelernt: es ist gerade aufgrund unserer Geschichte in Deutschland, die ja auch eine Geschichte der deutschen Linken ist, die die Shoah nicht verhindern konnte, jetzt unsere Pflicht, überall, auch im Palästina/Israel-Konflikt eindeutig auf der Seite der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu stehen.
Dieser Konflikt wird nicht lösbar sein, solange er „ethnisiert“ wird, was in der Forderung nach einem jüdischen Staat aber geschieht, ganz besonders aggressiv seitens der aktuellen neozionistischen Bewegung. Es geht im Kern nicht um einen ethnischen oder gar angeblich religiösen Konflikt, sondern um einen Konflikt zwischen Oben und Unten.
Wenn ich so argumentiere, kann ich sicher sein, sofort mit dem Vorwurf des „Antisemitismus“ konfrontiert zu werden: von PEGIDA einschließlich mancher Nazis, die heute bisweilen immer häufiger mit Israelflaggen auftreten, bis hin zum sogenannten „antideutschen“ Flügel der proimperialistischen „Linken“.
Leute, die behaupten, eine aus egalitärer und emanzipatorischer Sicht notwendige Kritik der Besatzungspolitik des heutigen Zionismus sei antisemitisch, verharmlosen den realen mörderischen Antisemitismus sowohl der historischen Nazis als auch den der heutigen Rassist*innen.
Zudem sind das derzeit oft genug genau dieselben Leute, die anscheinend keinerlei Probleme mit dem gerade heftig um sich greifenden antiislamischen Rassismus haben – der am schnellsten wachsenden ideologischen Form und brandstiftenden Praxis der extremen Rechten. In diesem Land hier hat es allein im laufenden Jahr 2015 fast 800 Anschläge auf migrantische, islamische und Flüchtlingseinrichtungen gegeben. Fast alle werden nicht aufgeklärt, häufig werden sie zB. in den sozialen Medien mit heuchlerisch sogenannter „Islamkritik“ propagiert und „gerechtfertigt“.
Wir hier sind natürlich weder in der Lage noch berufen, von außen den Palästina/Israel-Konflikt zu lösen. Aber wir haben selbstverständliche sehr konkrete Aufgaben vor Ort – zum Beispiel dafür zu sorgen, daß deutsche Regierungen keine U-Boote nach mehr Israel verschenken, überhaupt: keine Rüstungsgüter nach dorthin exportieren. Und überhaupt nirgendwohin.
MR: Welche sind die Hauptthemen Ihrer Artikel und Schriften?
HCS: Ich habe mich bisher mit unterschiedlichsten Fragen beschäftigt. Hauptthemen gibt es nicht. Aber es gab und gibt unterschiedliche Sektoren theologischer und politischer Arbeit in meinem Leben, die mich zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich intensiv beschäftigt haben. Es gab neben bibelwissenschaftlichen schon im Studium religionswissenschaftliche und kirchenhistorische Schwerpunkte. Über ein Thema der mittelalterlichen Kirchengeschichte habe ich 1988 promoviert. Eine lange Phase war mein Interesse an einer Religionstheologie aus evangelischer Sicht. Ich habe mich damals vor allem mit den Voraussetzungen und Bedingungen für einen gleichberechtigten Dialog zwischen Kulturen und Religionen interessiert. Ich finde allerdings: die Probleme unterschiedlicher religiöser und kultureller Traditionen im Alltag unserer Gesellschaft hier werden vielfach von der Basis aus gelöst, ohne daß diese von den akademischen Diskursen überhaupt Notiz nimmt. Eine ähnliche Entwicklung gab es nach 1945 bereits schon einmal. Damals machten sich kirchliche Gremien große Gedanken über konfessionelle „Mischehen“, während die Menschen sich ohne Rücksicht auf ihre jeweilige Konfession ineinander verliebten, Kinder bekamen, heirateten – und damit einen ungleich größeren Beitrag zur Integration der Gesellschaft erbracht haben, als alle Expertenkommissionen zusammen.
Eine zweiter Schwerpunkt war dann in den 1990er Jahren, mich mit der Organisationsform und den Strukturen religiöser Vergemeinschaftungen in meiner evangelischen Kirche auseinanderzusetzen. Unsere hiesigen christlichen Kirchen sind nach meiner Überzeugung in vielen Punkten noch immer viel zu introvertiert, zu ängstlich, zu unparteilich für die Sache der Armen, viel zu wenig offen gegenüber den drängenden Problemen der Gesellschaft, zu leise, zu wenig klare Kante gegen die Herrschenden, zu wenig prophetisch. Das hat auch organisationspraktische, strukturelle Gründe, die nach meiner Überzeugung bis heute nicht beseitigt sind.
Ein dritter großer Sektor meiner Arbeit bestand und besteht in meiner Teilnahme an gesellschaftlichen und politischen Konflikten und Kämpfen, die es hierzulande gibt. Das ergibt sich ja schon aus dem, was ich ganz am Anfang zur Frage der Gleichheit gesagt habe. Für mich ist die Welt der gesellschaftlichen Konflikte und Kämpfe nicht eine Welt mit einem Eigenleben, die nichts mit meiner theologischen Arbeit oder meinem Religionsunterricht an einer Berufsschule zu tun hätte. Ich bin seit 2001 Sprecher eines antifaschistischen und antirassistischen Aktionsbündnisses in Frankfurt, der Anti-Nazi-Koordination (www.antinazi.wordpress.com), aber auch im Bereich des Kampfs gegen Krieg und Imperialismus. Wer sich über meine aktuellen theologischen und sonstigen Überlegungen zu politischen Fragen informieren möchte, kann das auf meinem Blog (www.wurfbude.wordpress.com) tun – da gibt es ein Verzeichnis meiner theologischen Veröffentlichungen, dort kann man aber auch unter anderem meine Texte zB. zur Kritik der „Islamkritik“, aber auch zu im engeren Sinn theologischen Fragen finden.
Was mich seit einiger Zeit theologisch immer mehr interessiert ist der Sachverhalt der Umkehrung als einer Signatur christlicher Theologie. Schon in der hebräischen Bibel begegnet an mehreren Stellen die Vorstellung einer in Gott sich selbst in Frage stellenden, umkehrenden „Reue Gottes“, also einer Wendung Gottes gegen sich selbst, eine Vorstellung, die regelmäßig mit dem hebräischen Begriff der „rachamim“, des Erbarmens Gottes, konnotiert ist. Die hebräische Wurzel dieses Begriffs ist verwandt mit jener arabischen Wurzel, mit der Muslime weltweit Allah täglich als „rachman“, Barmherzigen, ansprechen. Im Hebräischen ist dieser Begriff zudem mit einem eindeutig weiblichen Körperteil, der Gebärmutter, „rächäm“, etymologisch engstens verwandt. In der abrahamitischen, monotheistischen jüdisch-christlich-islamischen Tradition ist also keinesfalls von einem Gott die Rede, der patriarchal gedacht werden darf (auch wenn Jahrhunderte der Wirkungsgeschichte dem ins Gesicht schlagen.) Gottes Erbarmen, wird erzählt, wendet sich im Interesse seiner Geschöpfe, seiner Kinder gegen sich selbst, gegen seinen lodernden Zorn auf eine zutiefst scheiternde, antiegalitäre, unfriedliche und ungeschwisterliche Menschheit, die eigentlich Wächter und Wärter der Schöpfung sein sollen.
Im jüdischen Messianismus, dessen Teil seiner Herkunft nach das Christentum ist, gilt die Zeit unmittelbar vor der Ankunft des ersehnten endzeitlichen Friedensbringers als die der „Wehen des Messias“. Eine radikale Ausprägung dessen sehe ich im christlichen Bekenntnis zu der Erzählung, daß Gott gleichsam als Ausdruck dieser „Wehen“, sozusagen vom eigenen Erbarmen, seiner „rächäm“ genötigt, in einem Bauarbeiter, dem Galiläer Jeshua, ein Mensch wurde.
In diesem Menschen, unehelich in einem Stall geboren, wenige Tage nach seiner Geburt bereits Flüchtling, politischer Asylant in Ägypten, predigte er später die alles traditionell Selbstverständliche in Frage stellende Loslösung aus den konventionellen Bindungen seiner Gesellschaft: Familie, Seßhaftigkeit, Berufsarbeit.
Die, denen er begegnete, sahen dadurch plötzlich das, wofür sie zuvor blind waren, konnten aufrecht, und mussten nicht mehr verkrümmt durchs Leben gehen, erlebten sich in grenzensprengender Liebe befreit aus moralisierender, geschlechtlicher, gesellschaftlicher Diskriminierung.
Damit machte Jeshua sich verdächtig genug. Aber seine Kritik am Ineinander von Staats-Kult und Kommerz im Tempel von Jerusalem erregte nach dem Bericht der Evangelisten endgültig den Zorn der Herrschenden, der Religionsexperten und das Mißtrauen der römischen Besatzungsmacht. Das kostete ihn, das heißt, wie Christen bekennen: Gott selbst in Jeshua, das Leben.
Folgerichtig angesichts seines Lebensvorgangs wurde er vom Repräsentanten des Imperiums mit der für aufrührerische Sklaven vorbehaltenen Strafe am Kreuz öffentlich zu Tode gefoltert. In Jeshua wurde Gott von den Herrschenden umgebracht.
Damit wäre eigentlich – wir heute könnten resignierend bereits sagen: wieder einmal – alles zu Ende gewesen. Alles – das heißt nach unserem christlichen Bekenntnis ja: das Leben Gottes in Jesus, in dem er Mensch geworden, gekommen war, um Gesellschaft, Leben, ja den ganzen Kosmos vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Aber es ging eben weiter. Die Umwälzung war nicht endgültig gescheitert auf ihrem Weg, das Oberste zuunterst und das Unterste zuoberst zu kehren. Das Auferstehungsbekenntnis ist der Geburtsort des Christentums im Rahmen des jüdisch-christlichen Messianismus.
Anastasis, dieses griechische Wort für Auferstehung, bedeutete aber in der politischen Sprache der griechischen Literatur mindestens seit Aristoteles auch „Aufstand“, den Aufstand der Beherrschten gegen ihre Unterdrücker. Kali anastasi – frohe Ostern – fröhlicher Aufstand!
Wenn man aus christlicher Perspektive die Christologie als Zentrum des Gottesbegriffes ansieht, dann bewegt sich Gott also in einer riesigen Bewegung der Umkehrung unwiderruflich von Oben nach Unten, durch den Tod am Kreuz hindurch, sogar noch in die Tiefen der höllischen Unterwelt (deren Existenz seither mehr als fraglich ist) und von dort wieder zu uns. Der, der danach wieder auf dem Thron sitzt, ist dann natürlich nicht mehr der, der er vor Fleischwerdung in Jeshua, Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt war. Es ist jetzt der von den Herrschenden erfolglos zu Tode gefolterte Sklave, der nach dem siegreichen Aufstand jetzt auf dem Thron Gottes sitzt. Es kann danach kein Oben und kein Unten mehr im bisherigen Sinn geben – jedenfalls nicht nach dem Willen Gottes, sondern allenfalls und nur noch vorübergehend im Interesse der Herrschenden.
Gott stirbt als Sklave am Kreuz, aber dabei bleibt es nicht. Anastasis, Auferstehung, konkret: Aufstand – daran denke ich, wenn wir jetzt in der Adventszeit singen: „O Heiland, aus der Erden spring!“ – ein wunderbares Bild für diesen Aufstand Gottes gegen die Todesstrukturen der Herrschenden.
Ein weiteres Thema, das sich daraus ergibt, ist der Befreiungsbegriff. Das gerade erwähnte traditionelle Wort „Heiland“, aber auch der Begriff „Erlöser“ und ähnliche Begriffe klingen Menschen von heute völlig unverständlich in den Ohren. In unserer alltäglichen Welt kommen sie, wenn überhaupt, faktisch nur als Worte einer religiösen Sondersprache vor, Versatzstücke eines Paralleluniversums. Sie sind nicht zufällig neutralisiert, entleert, unverständlich.
In der hebräischen wie in der griechischen Bibel aber haben sie vielerorts eine sehr konkrete, praktische Bedeutung: zB. die „apolytrosis“, dh. die Befreiung von Menschen in die Schuldsklaverei dadurch, daß jemand die ursprünglich von ihnen geschuldete Summe für sie bezahlt. Das ist also keineswegs ein neutrales, sondern ein durch und durch parteiliches Bild, das sich klar auf die Seite der Armen, ja von Sklav*innen stellt und ihr Leben aus der Perspektive der Befreiung, gleichsam von linksunten aus angeht.
Das alles sind denkbar zentrale theologische Themen mit praktisch-gesellschaftlicher Konsequenz. Gott erscheint hier nicht als unangreifbarer, ferner, unverwundbarer, alles lenkender und kontrollierender patriarchaler Herrscher, sondern als ein von seinem Innersten, seiner „rächäm“ veranlassten, zutiefst solidarischen Wesen, das für seine Geschöpfe nicht in einem king oder star, sondern in einem arbeitenden Menschen wird wie wir, an unserer Seite erlebt, was wir erleben, und dieses Erleben radikal in Frage stellt, der folgerichtig als Aufrührer durch das Imperium mit einer politischen Straftätern vorbehaltenen Strafe hingerichtet wird – aber der einfach nicht totzukriegen ist, lebendig wieder „aus der Erde springt“.
Diesen Gott können Herodes, Pilatus und Augustus nicht für sich in Anspruch nehmen, ebensowenig wie die Herrschenden heute. Eine phantasierte Einheit von Thron/Kapital/Imperium und diesem Gott – das ist Blasphemie.
Dies alles im Zusammenhang darzustellen, konkreter, genauer begründet und konsistenter dargelegt, als ich das jetzt hier kurz anreißen kann, in einer theologisch verantwortbaren Weise, aber auch in der ganzen Sprengkraft für die politische Praxis, die sich daraus ergibt – ich kann nur hoffen, daß mir das irgendwann in den nächsten Jahren gelingt.
MR: Wie wird Ihr Kampf für die egalitären Ziele der Menschheit weitergehen? Welche Haupthindernisse finden Sie immer wieder auf Ihrem Weg und was gibt Ihnen Hoffnung?
HCS: Hoffnung geben mir die Leute, mit denen ich unterwegs bin. Ich lerne immer wieder neue Menschen, Schwestern, Brüder, Genossinnen und Genossen auf diesem Weg kennen. Fragend gehen wir voran.
Solange ich kann werde ich versuchen, mich mit meinen begrenzten Möglichkeiten in die gesellschaftlichen Kämpfe einzubringen, um dem Sprung von der Vorgeschichte der Menschheit in ihre eigentliche Geschichte näher zu kommen.
Auf diesem Weg sind vernichtende Niederlagen bisher häufiger als Siege. Aber wenn ich daran denke und mich das herunterzuziehen will, summe ich in mir mit, was die Reste der geschlagenen Bauernheere nach dem Bauernkrieg von 1525 sangen: „Geschlagen ziehen wir nach Haus – die Enkel fechten’s besser aus!“. Ich hoffe, daß wir das gegen die Interessen der Herrschenden durchsetzen können, hoffe, daß unsere Enkel eine lebenswerte Erde vorfinden, auf der sie in ihren Kämpfen unsere Kämpfe endlich zu Ende führen können – Kämpfe, Niederlagen, Siege, die im letzten Sinn, wie ich sie verstehe, immer auch Teil jener Bewegung der großen Umkehrung der Schöpfung, der Welt, sind.
Für mich ist der Name dieser kosmischen, alle und alles hin zum Reich der Freiheit und Gleichheit umwälzenden Bewegung jener NAME, der nach jüdischer Tradition nicht ausgesprochen werden soll.